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Schattensturm

Schattensturm

Titel: Schattensturm
Autoren: Andreas Saumweber
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war nur ein Mädchen, fünfundzwanzig zwar, aber nur ein Mädchen. Ein Mädchen, das
leben
wollte! Einfach nur leben! Stattdessen war sie zur Bundeswehr gekommen, sie hatte das Geld gebraucht, und plötzlich waren da die Beförderungen gewesen, eine nach Somalia 1993 nach der großen Schlacht von Mogadischu, in die die deutschen Sanitäter irgendwie hineingeraten waren, eine nach Sarajewo, und mit ihnen dieGehaltserhöhungen, die sie so dringend brauchen konnte, die Versetzung zu den Fallschirmjägern und die Verpflichtung, Männer anzuführen. Plötzlich hatte sie nicht mehr ein Mädchen sein können, plötzlich hatte sie die starke Frau spielen müssen, um sich unter den Machos, den Schießwütigen und den Rechtsradikalen unter den Fallschirmjägern durchzusetzen. Das hatte sie den letzten Rest ihrer Jugend gekostet, ihren Verstand und ihre Freiheit. Und wenn die Wächter wieder gegangen waren, würden sie auch noch ihren Selbstrespekt mitnehmen, und das letzte Stück Unbeschwertheit, das sie bis jetzt retten konnte durch all die schwere Zeit.
    Sie würden kommen. Sie würden sie mitnehmen. Sie würden sie –
    »ICH WILL HIER RAUS!!!« Ruckartig setzte sie sich auf und schlug sich dabei beinahe den Kopf an der Decke an. Sie ließ sich vom Bett gleiten und rüttelte an den Gittern. »UM GOTTES WILLEN, LASST MICH DOCH RAUS!«
    Sofort waren ihre Mitgefangenen zur Stelle, Petra und Nicole, die beiden Gewaltverbrecherinnen. Kräftige Hände packten sie an den Schultern und zerrten sie von den Stäben. »Beruhige dich!«, zischte Petra, und als Veronika noch einmal zum Schreien ansetzte, verpasste sie ihr eine schallende Ohrfeige.
    Wie im Traum kletterte Veronika zurück auf ihr Bett, wickelte sich wieder ein in ihre Decke.
    Sie war wahnsinnig. Und sie war hier am falschen Ort. Sie gehörte in eine geschlossene Anstalt, nicht in den Knast. Ob sie dort auch Frauen vergewaltigten? Sie hätte es dem Richter gestehen müssen, dass sie durchgedreht war, doch nun war sie hier in Untersuchungshaft und wartete auf den Schauprozess, den die Presse haben wollte, weil man daran zweifelte, dass für Offiziere der Bundeswehr die gleichen Gesetze galten wie für den Rest der Bevölkerung.
    Sie war angeklagt, weil sie einen Menschen getötet hatte. Einen ihrer Männer. Den Zugfeldwebel Ulrich, um genau zu sein. Siehatte ihm den Kopf vom Hals geschnitten. Man hatte sie gefunden, gemeinsam mit der kopflosen Leiche. Der Kopf war nie wieder aufgetaucht. Wenn man der Boulevardpresse glauben wollte, hatte sie ihn
gegessen
.
    Aber selbst wenn nicht: Tot war er, so viel stand fest. Sogar in ihrer trügerischen Erinnerung hatte sie ihn tot gesehen. Getötet von ihrem Schwertanhänger, ein Familienerbstück, das sie über Jahre hinweg als Medaillon um ihren Hals getragen hatte und das plötzlich ein
echtes
Schwert gewesen war.
    Eines war verrückter als das andere. Es war völliger Wahnsinn.
    In ihrer Erinnerung war es Notwehr gewesen. Ulrich war plötzlich in ihrem Zimmer aufgetaucht, nur dass es nicht Ulrich gewesen war, sondern ein Monster, eine Kreatur mit Reißzähnen und Klauen in Ulrichs Uniform. Es hatte sich vor ihren Augen verwandelt, und dann war es tatsächlich Ulrich gewesen. Er hatte ihre Pistole ergriffen und sie auf sie gerichtet. Er war drauf und dran gewesen, abzudrücken …
    Purer Wahnsinn!
    Und als ob das nicht schon reichte, war plötzlich diese Frau durchs Fenster geflogen und hatte ihn niedergestreckt, Fatima, eine Freundin, die sie auf den Straßen Gnjilanes kennengelernt hatte und die von sich behauptet hatte, eine Agentin der Inquisition zu sein. Sie war es, die Veronika dazu aufgefordert hatte, das Schwert zu nehmen und Ulrichs Kopf abzuschlagen.
    Dass sie im Gefängnis saß, war nur folgerichtig. Sie war nicht mehr zurechnungsfähig. Sie hatte in ihrem Wahn einen Mann getötet und phantasierte sich eine völlig durchgedrehte Erklärung zusammen. Zugegeben, am Vortag hatte er versucht, sie zu töten, aber das war kein Argument für einen solchen Mord. Und selbstverständlich hatte sie keine Beweise für seine Absichten gehabt.
    Aber dass sie dafür durchmachen musste, was ihr nun bevorstand? Sie begann, zu weinen, bitterlich und hysterisch. »HALT DOCH ENDLICH DIE FRESSE!«, rief ihr Mareike hasserfüllt zu, und Veronika konnte sie verstehen. Mareike wusste nicht, was
sie
wusste. Sie wusste nur, dass es sie gestern erwischt hatte, dass sie das Schlimmste durchgemacht hatte, während Veronika nur zu einer kleinen
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