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Schattenriss

Schattenriss

Titel: Schattenriss
Autoren: Silvia Roth
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zu machen, wobei sie aus den Augenwinkeln beobachtete, wie die brünette Kassiererin ihren Schalter verließ und zu einem der Geldautomaten an der gegenüberliegenden Wand eilte.
    »Ich bin’s«, meldete sich Oskar Bredeney, offenkundig irritiert, weil seine junge Kollegin sich nicht mit ihrem Namen gemeldet hatte, wie sie es üblicherweise tat. »Ich wollte nur ... Passt es Ihnen gerade?«
    Nein, dachte Winnie Heller, es passt mir ganz und gar nicht. Laut sagte sie: »Klar. Was gibt’s?«
    »Es geht um den vorläufigen Bericht zu eurer letzten Überwachung«, erklärte Bredeney, der sich mit großen Schritten dem Tag seiner Pensionierung näherte, dem er – allen anders lautenden Beteuerungen zum Trotz – mit einer Mischung aus Misstrauen und nackter Angst entgegensah. »Wie’s scheint, will Hinnrichs die Sache noch vor Ostern abgeschlossen wissen, und da wollte ich ...«
    Na toll, dachte Winnie Heller, das erste laue Lüftchen des Jahres, dazu eine Handvoll mehr oder weniger erbaulicher Feiertage, und schon drehen alle durch!
    »Ich kümmer mich drum«, versprach sie, während sie mit wachsender Besorgnis registrierte, dass auch der gestresste Kassierer, der – zumindest im Hinblick auf ihre Pokerzukunft – gewissermaßen ihre letzte Hoffnung verkörperte, seinen Schalter verlassen hatte und mit einem Schriftstück in einem der angrenzenden Büros verschwand. Was, wenn der Kerl gar nicht erst wiederkam? Was, wenn er von seiner anstrengenden Hausfrauenkundin die Nase voll hatte und sich jetzt, in diesem Augenblick, durch einen Hinterausgang in seinen wohlverdienten Feierabend stahl? Winnie Heller kniff argwöhnisch die Brauen zusammen und hielt Ausschau nach der athletischen Kollegin des Flüchtigen, die zu ihrer Beruhigung noch immer bei den Automaten stand und geschäftig mit einer Reihe von Schlüsseln hantierte. »Reicht es Ihnen, wenn Sie die Endfassung bis Montagmittag auf dem Schreibtisch haben?«, wandte sie sich wieder an Bredeney.
    »Natürlich, machen Sie sich keinen Stress«, entgegnete dieser in väterlichem Tonfall. »Ich meine, Sie werden doch bestimmt noch ’ne ganze Menge Vorbereitungen haben. Nach allem, was man so hört, soll ja immer ganz hübsch was los sein ...« In der Pause, die dieser Bemerkung folgte, lag eine unverhohlene Neugier.
    »Vorbereitungen?« Winnie Heller schüttelte verständnislos den Kopf, bis ihr bewusst wurde, dass der altgediente Kollege von ihrer Pokertour sprach. »Ich fahre nicht mit«, bekannte sie freimütig, obwohl sie ganz und gar keine Neigung verspürte, ausgerechnet mit einem klatschsüchtigen Veteranen wie Oskar Bredeney über geplatzte Träume, rücksichtslose Vorgesetzte und abgesagte Vergnügungsreisen zu diskutieren.
    »Was soll das heißen, Sie fahren nicht mit?«, hakte Bredeney nach, doch Winnie Heller nahm die Rückfrage ihres Kollegen nur noch am Rande wahr. Etwas anderes hatte sie abgelenkt, etwas, das von jetzt auf gleich ihre gesamte Aufmerksamkeit für sich in Anspruch nahm und das sie doch erst richtig realisierte, als es bereits in vollem Gange war.
    Zunächst war es nichts als eine Bewegung, die sie stutzen ließ. Ein Zuviel an Bewegung, um genau zu sein. Etwas, das so gar nicht zu der feierabendträchtigen Ruhe der Schalterhalle zu passen schien. Unwillkürlich blickte sie in die Glasscheibe vor sich, und für einen flüchtigen Moment hatte sie den Eindruck, dort einen Schatten zu sehen. Eine huschende Bewegung, die seltsam irreal anmutete, weil Winnie sie vor sich sah und zugleich wusste, dass sie sich in ihrem Rücken abspielte. Das Nächste, was sie wahrnahm, war ein Schrei. Es war kein Angst- oder Schmerzensschrei, eher Laut gewordener Ausdruck einer plötzlichen Überraschung. Darauf folgte ein schwer zu definierender Knall oder Schlag.
    Dann eine Männerstimme.
    »Auf den Boden! Sofort!«
    Auch das war hinter ihr. Aber es kam nicht von dort, wohin der Schatten verschwunden war, was das betraf, war Winnie Heller ganz sicher. Es kam aus der anderen Richtung.
    Sie registrierte die geweiteten Pupillen der korpulenten Hausfrau, die sich zu ihr umgedreht hatte, etwas fauchte zischend an ihr vorüber, und für den Bruchteil eines Augenblicks glaubte sie gar, einen leisen Luftzug wahrzunehmen. Dann hörte sie ein Knirschen, als das Projektil im Panzerglas des Schalters einschlug.
    Die Dicke begann zu kreischen, während neben ihr der rote Einkaufsroller zu Boden krachte. Zugleich breitete sich ein Geflecht hauchfeiner Risse über das
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