Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Schattenriss

Schattenriss

Titel: Schattenriss
Autoren: Silvia Roth
Vom Netzwerk:
haben wollte. Wer immer die Kerle waren, sie wussten genau, was sie wollten. Und sie waren offensichtlich entschlossen, es auch zu bekommen. Und wenn sie dafür töten mussten.
    Neben ihr stöhnte die Dicke leise vor sich hin, und Winnie begann sich zu fragen, ob auch sie etwas abbekommen haben mochte oder ob sie einfach nur halb besinnungslos war vor Angst. Zugleich erreichte ihre Hand endlich die Seitennaht ihrer Jeans. Von dort ein Stück aufwärts, ganz langsam, und dann ...
    »Hey, du!«
    Sie wusste sofort, die Worte galten ihr, auch wenn sie noch immer nicht viel mehr sehen konnte als den blutenden Kassierer, der eigentlich seit ein paar Minuten Feierabend haben sollte.
    »Was treibst du da?«
    Winnie Heller zog eilig die Hand zurück. Dabei hustete sie, in der irrwitzigen Hoffnung, die Männer zu täuschen. Sie abzulenken von ihrem eigentlichen Ziel. Und der Gefahr, die davon ausging. »Entschuldigung, aber mein ... Ich hatte einen Krampf«, stammelte sie, weil sie plötzlich den Eindruck hatte, dass er tatsächlich eine Antwort von ihr erwartete.
    »Du rührst dich nicht von der Stelle, kapiert? Oder ich blase dir dein gottverdammtes Hirn weg!«
    Alles klar, dachte Winnie Heller, indem sie vergeblich versuchte, den Worten eine Richtung zuzuordnen.
    Das Nächste, was sie hörte, kam wieder von der ersten Stimme.
    »Gesichert«, sagte der Mann in einem Ton, der angesichts der Situation bemerkenswert ruhig klang. »Und jetzt geh und hol ihn her.«
     
     
     

2
     
    Hendrik Verhoeven saß auf der äußersten Kante eines olivgrünen Ohrensessels und hatte das Gefühl zu ersticken. Er hatte lange gezögert, überhaupt herzukommen, und selbst jetzt war er nicht sicher, ob er das Richtige tat. Vergebung, dachte er, ist etwas, das man vielleicht doch nicht einfach so beschließen kann.
    Er betrachtete das runzlige Profil der Frau, die ihm gegenübersaß, und versuchte vergeblich, sich daran zu erinnern, wie sie ausgesehen hatte, als sie ihm noch große, angestoßene Teller mit Kartoffelbrei und Spinat und Rührei vor die Nase gestellt und am Ende eines jeden Tages gewissenhaft seine Schulaufgaben kontrolliert hatte, aber es wollte ihm beim besten Willen nicht gelingen. Sie hatten sie Anna genannt, alle, die mit ihm dort gewesen waren, und sie hatte sich nie gegen diese Anrede verwahrt. Vielleicht, weil sie »Tante« zu altmodisch gefunden und zugleich gewusst hatte, dass »Mama« ohnehin nie infrage kommen würde. Also war sie schlicht »Anna« gewesen. Ihrer aller Anna.
    Sie tut sich noch schwer , hatte eine der Schwestern Verhoeven in vertraulichem Ton zugeraunt, als er im Dienstraum der Station nach Annas Zimmernummer gefragt hatte. Sucht den Herd auf der Toilette. Die Toilette im Schrank. Das ist schon eine ziemliche Umstellung , hatte sie hinzugefügt. Aber manchmal gewöhnen sie sich tatsächlich noch einmal um. Und sind dann ganz glücklich. Glauben Sie mir, es gibt solche Fälle.
    Verhoeven hatte nicht gefragt, wie häufig so etwas vorkam, aber er hatte das unbestimmte Gefühl, dass die Frau ihm gegenüber, dass Anna zu dieser anderen Art von Fällen gehörte, zu denen, die sich nicht mehr umgewöhnten. Er starrte die Spitze ihres Gehstocks an, der griffbereit neben ihrem Sessel an der Wand lehnte, und fragte sich, ob sie überhaupt verstand, warum er hier war. Ob sie ihn erkannte. Ob sie auch nur die leiseste Ahnung hatte, wer er war. Immerhin hatte sie viele Kinder betreut in all diesen Jahren. Kinder wie ihn. Und jetzt war sie alt. Alt und verwirrt. Und obendrein ...
    »Du bist vom Rad gefallen und hast dir den Arm gebrochen«, sagte sie im selben Augenblick, als habe sie seine Gedanken gelesen und wolle nun umgehend den Beweis erbringen, dass sie sich sehr wohl an ihn erinnerte. »Ist der linke gewesen, glatt in der Mitte durch, hat der Doktor gesagt.«
    »Stimmt«, entgegnete Verhoeven, der nicht die geringste Vorstellung hatte, was er mit ihr reden sollte. Genau genommen hatten sie nie viel miteinander gesprochen. Mehr noch: Sie waren zwei Fremde gewesen, die zufällig unter ein und demselben Dach gelebt hatten, bis er endlich alt genug gewesen war, um allein klarzukommen.
    »Du hast dir andauernd den Arm gebrochen«, wiederholte Anna derweil in vorwurfsvollem Ton, vielleicht weil sie spürte, dass er am liebsten die Flucht ergriffen hätte. Vielleicht auch, weil sie tatsächlich daran glaubte.
    Sucht den Herd in der Toilette. Die Toilette im Schrank.
    Was für eine idiotische Idee, sie zu besuchen,
Vom Netzwerk:

Weitere Kostenlose Bücher