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Schattenriss

Schattenriss

Titel: Schattenriss
Autoren: Silvia Roth
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dachte Verhoeven. Er überlegte fieberhaft, was er ihr erzählen konnte, aber alles, was ihm einfallen wollte, war seine Familie. Und natürlich die Arbeit. Beides Themen, die ihm zu schade, zu wertvoll schienen, um sie an einer Frau wie Anna zu verschleißen. Also sprach er von dem Teich, den er angelegt hatte, hinten im Garten, doch selbst noch bei diesem unverfänglichen Thema ertappte er sich, wie er alles aussparte, das auch nur im Entferntesten mit seinem Leben zu tun hatte. Er sprach nicht von seiner Tochter, die mit Begeisterung auf dem kleinen Steg kniete und Wasserproben nahm, die sie anschließend mit ihrem Vorschul-Chemiekasten untersuchte. Er sprach nicht von den Kollegen, die ihm geholfen hatten, die mehr als erbärmliche Lache, die er aus eigener Kraft zustande gebracht hatte, in einen Teich zu verwandeln, der diesen Namen auch tatsächlich verdiente. Er sprach nicht einmal von Dominik Rieß-Semper, dem dicken Kindergartenfreund seiner Tochter, der das Biotop in einer frühen Phase seiner Entstehung mit fünfjähriger Arroganz begutachtet und für absolut jämmerlich befunden hatte. Stattdessen starrte er Annas Gehstock an und redete über Goldfische.
    »Wir hatten Hunde, früher«, erklärte sie, und ihre Züge wurden eigenartig weich, während sie das sagte. »Senta und Asta. Dazu auch ein Pferd. Um den Wagen zu ziehen, nicht zum Reiten oder so, verstehst du? Nur für den Wagen.« Sie schwieg einen kurzen Moment, bevor sie beinahe trotzig hinzufügte: »Aber es war ein richtiges Pferd.«
    Verhoeven nickte. Schon vorhin am Telefon hatte sie immerfort von früher gesprochen. Zu Hause hatten wir Hühner , hatte sie gesagt, als er sie gefragt hatte, ob ihr ein Besuch am späten Nachmittag recht sei. So ein frisches Ei, hatte sie gesagt , das schmeckst du. Ist was grundlegend anderes als das, was sie uns hier vorsetzen. Ein Huhn gehört an die Luft, sage ich dir, sonst schmeckt sogar noch das Eigelb nach Metall. Oder nach Chemikalien.
    Chemikalien waren ganz offenbar etwas, das sie fürchtete, obwohl sie die letzten acht Jahre ihres Lebens nichts anderem verdankte. Tabletten fürs Herz, für die Nieren, gegen Ödeme, gegen Thrombose, gegen alles und jedes. Aber die Rückstände in ihrem Frühstücksei bereiteten ihr Sorgen.
    Etwas, über das man eigentlich lachen müsste, dachte Verhoeven, indem er zu ihrem Nachtschränkchen hinübersah, wo sich Arzneimittelpackungen in allen erdenklichen Größen stapelten. Tatsächlich schien sich Anna in Bezug auf ihre Gesundheit mittlerweile genauso paranoid zu verhalten wie der Mann, den er selbst nur Schmitz genannt hatte. Allerdings war Schmitz im Gegensatz zu seiner Frau ein waschechter Hypochonder gewesen. Zumindest bis zu jenem Schlaganfall, der ihn eines schönen Septembernachmittags zunächst in ein schäbiges kleines Pflegezimmer und schließlich, nach zwei unbequemen Jahren zwischen Windeln und Wundsalbe, geradewegs in die Hölle katapultiert hatte.
    Das hat sie ihm bis heute nicht verziehen, dachte Verhoeven, indem er wieder Annas welkes Profil ansah. Einfach vom Stuhl zu fallen, wie schlapp, wie erbärmlich. Noch dazu, wo gerade Besuch da war. Seine Augen glitten über ihre runzligen Wangen, und er stellte voller Verwunderung fest, dass seine Pflegeeltern einander immer ähnlicher wurden, nicht nur, was den Umgang mit Krankheiten anging. Dabei sind sie nicht einmal verwandt gewesen, dachte er. Nur verheiratet. Achtunddreißig Jahre, eine halbe Ewigkeit. Und irgendwann wird sie wieder dort sein, wo er ist. Darauf stellt sie sich ein. Auch äußerlich. Gemeinsam in der Hölle, dachte er. Das wird ein Spaß!
    »Die Beate von der Nachtschicht kann mich nicht leiden«, klagte Anna mitten in die Stille, die sich zwischen ihnen breitgemacht hatte. »Obwohl ich ihr schon zweimal was geschenkt habe.«
    »Ich muss jetzt los«, sagte Verhoeven. Und in Gedanken fügte er hinzu: Es war ein Fehler, herzukommen, eine Illusion. Es gibt kein Vergessen. Und es gibt auch keine Vergebung. Das Äußerste, was man in dieser Art von zwischenmenschlichen Beziehungen erreichen kann, ist ein Zustand der Schmerzfreiheit.
    Er zuckte leise zusammen, als ihm bewusst wurde, dass Anna ihn bereits seit geraumer Zeit anblickte.
    »Kommst du wieder?«
    Nein, dachte er, aber das sagte er nicht. Stattdessen antwortete er: »Ich habe wenig Zeit.«
    Sie nickte, und Verhoeven hatte das beklemmende Gefühl, dass sie ihn ganz genau verstanden hatte. Da war eine plötzliche Wachheit in ihrem Blick,
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