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Schattenriss

Schattenriss

Titel: Schattenriss
Autoren: Silvia Roth
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als kinnlangen Bob geschnitten hatte. Und jetzt ... Winnie Hellers Augen suchten die Uhr neben dem Tacho. Jetzt war es sieben Minuten vor fünf, was bedeutete, dass sie in exakt vierhundertzwanzig Sekunden als Depp der Nation dastehen würde, wenn sie sich nicht beeilte!
    Sie riss ihr Handy aus der Halterung der Freisprecheinrichtung, stopfte ihr Portemonnaie und den Umschlag mit dem Geld, den ihre Kollegen ihr mitgegeben hatten, in die Gesäßtasche ihrer Jeans und knallte die Autotür zu.
    »Nein, nein und nochmals nein«, schrie sie in ihr Handy, während sie unter dem wütenden Gehupe einer Passatfahrerin bei Rot über die nächste Ampel hastete. Die Sparkassenfiliale, zu der sie unterwegs war, lag in einer der zahlreichen Seitenstraßen, und bis vor ein wenigen Augenblicken hatte sie es für eine gute Idee gehalten, die letzten paar Schritte zu Fuß zu gehen, anstatt sich mitten im anbrechenden Feierabendverkehr durch ein halbes Dutzend wenig benutzerfreundlicher Einbahnstraßen zu kämpfen. Mittlerweise war sie sich allerdings nicht mehr so sicher, ob diese Entscheidung ihr tatsächlich die gewünschte Zeitersparnis einbringen würde. Eher im Gegenteil. »Das werde ich ganz bestimmt nicht tun«, wandte sie sich wieder an ihren Gesprächspartner. »Also vergiss es einfach, okay?«
    »Nein.« Hermann-Joseph Lübke hustete laut und angestrengt. Er wurde fünfundfünfzig in ein paar Wochen, und wenn er seinen Lebensstil nicht von Grund auf änderte, würde dieser Ehrentag aller Wahrscheinlichkeit nach auch der letzte schnapszahlige Geburtstag sein, den der Leiter der erkennungsdienstlichen Abteilung des nordhessischen Polizeipräsidiums feierte, davon war Winnie Heller felsenfest überzeugt. Und nicht zuletzt aus diesem Grund begegnete sie Lübke und all seinen Anliegen in der letzten Zeit mit beständig wachsender Aggression. Er schien es zu spüren und reagierte mit der ihm eigenen polternden Flapsigkeit, was Winnie nur noch mehr gegen ihn aufbrachte. Sie hasste es, sich Sorgen zu machen, und noch mehr hasste sie es, wenn das Objekt ihrer Sorge ihre gut gemeinten Mahnungen mit einem flotten Spruch kurzerhand in den Wind schlug.
    »Was, zur Hölle, meinst du mit nein?«, fauchte sie, indem sie sich an einem gebrechlichen Herrn mit Gehhilfe vorbeidrängte, der trotz seiner Zierlichkeit nahezu die gesamte Breite des Bürgersteigs für sich einnahm.
    »Nein, ich werde diese Sache ganz bestimmt nicht so einfach vergessen«, formulierte Lübke seine Antwort ein wenig ausführlicher.
    »Dein Pech.«
    »Und warum willst du dir das Ganze nicht noch mal in Ruhe durch den Kopf gehen lassen?«
    »Weil ich die Donau hasse«, entgegnete Winnie Heller inbrünstig. »Und die gesamte walzerselige Melancholie dieser Stadt gleich mit. Und weil ich ...«
    »Herrgott noch mal, Mädchen«, fiel Lübke ihr ins Wort, »du bist noch nie in deinem Leben in Wien gewesen. Wie willst du da wissen, dass du die Donau hasst?«
    Sie stöhnte und überlegte fieberhaft, bei welcher Gelegenheit sie Lübke erzählt haben mochte, dass sie Wien – genau wie den gesamten Rest von Österreich – trotz seiner geographischen Nähe bislang nur vom Hörensagen kannte. Hatte sie am Ende auch erwähnt, dass es ihr heimlicher Traum war, einmal im Leben allein und ungestört durch die Katakomben unter der Donaumetropole zu streifen und anschließend ein paar Blumen am Grab von Hans Moser, dem Idol ihrer Kindheit, niederzulegen?
    »Es gibt dort ein Bestattungsmuseum, das wir uns ansehen könnten«, erklärte ihr Lübke unterdessen durchaus hoffnungsfroh.
    »Sag mal, tickst du noch ganz richtig?«, konterte sie, indem sie zum wiederholten Mal auf die Uhr blickte. Gottlob hatte sie das Ansinnen des sanften Stylisten, ihr in Ergänzung des neuen Schnitts gleich auch noch eine neue, »definiertere« Haarfarbe verpassen zu wollen, freundlich, aber bestimmt abgelehnt! »Wie kommst du auf die Schnapsidee, dass mich von allen Sehenswürdigkeiten, die diese Stadt zu bieten hat, ausgerechnet ein verdammtes Bestattungsmuseum interessieren könnte?«
    »Na gut«, sagte Lübke, der zu ihrer größten Enttäuschung noch immer nicht im Mindesten entmutigt klang, »dann machen wir eben den ganzen Rest. Du weißt schon, Klimt und Stephansdom und dieses ganze andere Zeug. Und anschließend fahren wir zum Heurigen und ...«
    »Den Teufel werden wir«, versetzte Winnie Heller unmissverständlich endgültig. »Ich fürchte, du wirst dich ganz allein besaufen müssen, mein Lieber,
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