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Schattenriss

Schattenriss

Titel: Schattenriss
Autoren: Silvia Roth
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ist, was so weit hinten sein sollte, im entferntesten Winkel des Dachstübchens, oder haben sich ihre Lippen vielleicht doch nur stumm bewegt? Oder gar nicht?
    Sie kann es nicht sagen.
    Manchmal hat sie das Gefühl, dass sie sich selbst nicht mehr kennt. Dabei hat sie lange Zeit nur so getan. Innen ist alles intakt gewesen, nur, ja, nur verdrängt gewissermaßen. Aber jetzt?
    Jetzt ist sie nicht mehr so sicher.
    Natürlich schaut sie sofort wieder weg, aber es ist lange genug gewesen, das kann sie fühlen, als sie sich wieder zu den Lichtklecksen umdreht. Eigenartigerweise ist ihr in diesem Augenblick schon bewusst, dass sie nie wieder sticken wird. Wie seltsam, denkt sie, dass das nicht weher tut. Auf etwas verzichten, das man so gern getan hat. Immer anders, denkt sie, als man glaubt. Man wird fertig mit Dingen, mit denen man nie erwartet hätte, fertig zu werden. Und scheitert an Banalitäten.
    An einem leeren Kindersarg ...
    Ein neuerliches Geräusch lässt sie hochschrecken. Geldscheine, die zu Boden rieseln. Hilfsbereite Gesichter. Wie dumm, denkt sie, wie ungeschickt. Und schnell ein neues Lächeln, eine neue Schublade. Entschuldigend, dieses Mal. So etwas beherrscht sie im Schlaf. Schubladen aufziehen. Reaktionen herausholen. Glaubhafte Reaktionen, während der Rest von ihr längst anderswo weilt. So wie jetzt. Ihr Körper steht hier, in dieser Sparkassenfiliale, die nicht die ihre ist, und der Rest von ihr befindet sich auf der Flucht. Sie weiß, sie muss so schnell wie möglich vergessen, was sie gesehen hat. Wenn sie es nicht vergisst, ist sie verloren. Niemand kann über leben, ohne zu vergessen. Eines der wenigen Dinge, die sie ganz sicher weiß.
    Und so nimmt sie lächelnd entgegen, was man ihr hinstreckt. Brieftasche. Personalausweis. Geld. Sie zählt es nicht nach. Sie schaut nicht, ob etwas fehlt. Es könnte ein Ei sein, was diese fremden Gesichter ihr reichen. Oder Dollarscheine. Oder Spielgeld.
    Als ihr endlich niemand mehr helfen will, dreht sie sich um und geht auf die Tür zu, durch die sie gekommen ist. Sie registriert glitzerndes Glas, das freundlich zur Seite gleitet, das ihr Platz macht, damit sie entkommen kann. Eine gesprungene Platte taucht vor ihr auf, der Bürgersteig vielleicht, ja, anzunehmen. Links vor ihr ein Blatt, lindgrüngelb, nur an den Rändern bereits bräunlich. Sie betrachtet es einen flüchtigen Moment, während sich die Herbstsonne wie eine freundliche Umarmung um ihre Schultern legt. Wenigstens das, denkt sie, wenigstens frei sein. Zumindest körperlich. Gehen können, wohin man will. Das ist schon viel, denkt sie, und seltsamerweise kommt ihr dabei das Mitteldeckchen in den Sinn, an dem sie gerade stickt. Nein, gestickt hat. Blüten zarter Batist. Maiglöckchen und Vergissmeinnicht. Frühling und Schicksal.
    Vergissmeinnicht.
    Doch, denkt sie, ich vergesse dich.
    Es ist mir schon einmal gelungen. Es wird mir wieder gelingen.
    Im Vergessen habe ich Übung. Und die Sicherheit liegt in der Wiederholung.
    Im Weitergehen breitet sich ein Lächeln über ihre Lippen, obwohl sie den Schatten, der ihr folgt, sehr wohl bemerkt.
    Aber er spielt keine Rolle.
    Schatten sind etwas, mit dem man sich abfinden muss – eines der wenigen Dinge, die sie niemals vergessen wird.
     

ERSTER TEIL

Wiesbaden, 14. März 2008
     
     
     
    1
     
    Ein milder Westwind hatte die zarten Knospen der Bäume, die die vornehme Wiesbadener Wilhelmstraße säumten, im wahrsten Sinne des Wortes über Nacht aufspringen lassen, doch für die Verlockungen des Frühlings hatte Winnie Heller keinen Blick. Sie war spät dran, und wie immer, wenn sie spät dran war, empfand sie eine unbequeme Nervosität.
    Wer konnte denn aber auch ahnen, dass die Herstellung eines simplen Haarschnitts derart viel Zeit in Anspruch nahm?!
    Winnie Heller seufzte und drechselte ihren Polo in die klaustrophobisch enge Lücke zwischen einem imposanten schwarzen BMW und einer der letzten verbliebenen öffentlichen Telefonzellen, wobei sie das Halteverbotsschild vor sich mit einem müden Lächeln bedachte. Gut, sie hatte sich zur Abwechslung mal etwas richtig Edles gönnen wollen, einen neuen Look aus einem trendigen Szenesalon, kreiert von einem ebenso schönen wie sanften Stylisten, der ihr gefühlte zweieinhalb Stunden lang hingebungsvoll die Kopfhaut massiert hatte, bevor er ihr eine Latte macchiato serviert und mit entschlossenen Bewegungen eine ganze Reihe von äußerst gewöhnungsbedürftigen Stufen in ihren bis dato etwas mehr
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