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Schattenpferd

Titel: Schattenpferd
Autoren: Tami Hoag
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Verbindung zum Leben, und jede mit ihnen verbrachte Stunde war eine Gnadenfrist.
    Schon in jungen Jahren war ich zu dem Schluss gekommen, dass meine Spiritualität etwas Einzigartiges war und nur mir allein gehörte, etwas, das ich nur tief drinnen an einem kleinen, ruhigen Punkt im Zentrum meines Seins finden konnte. Manche Menschen finden diesen Punkt durch Meditation oder Yoga oder Gebete. Ich finde ihn, wenn ich auf einem Pferd sitze. Meine Zenreligion: die Pferdekunst der Dressur.
    Dressur ist eine Disziplin, die in alten Zeiten auf dem Schlachtfeld entstanden ist. Schlachtpferde wurden zu präzisen Bewegungen trainiert, um ihren Herren in der Schlacht zu helfen, nicht nur beim Ausweichen vor dem Feind, sondern auch beim Angriff. Über die Jahrhunderte verlagerte sich das Training vom Schlachtfeld auf die Reitbahn, und Dressur entwickelte sich zu einer Art Pferdeballett.
    Dem ungeübten Auge erscheint Dressur anmutig, elegant und mühelos. Ein erfahrener Reiter wirkt so ruhig, so bewegungslos, als würde er regelrecht mit dem Hintergrund verschmelzen. In Wirklichkeit ist dieser Sport sowohl körperlich wie auch geistig anstrengend für Pferd und Reiter. Komplex und kompliziert. Der Reiter muss mit jedem Schritt des Pferdes, mit dem Gleichgewicht jedes Zentimeters des Pferdekörpers im Einklang sein. Die geringste Gewichtsverlagerung des Reiters, die kleinste Handbewegung, das leichteste Anspannen eines Wadenmuskels beeinflusst die Qualität der Vorführung. Die Konzentration muss absolut vollständig sein. Alles andere wird unwichtig.
    Reiten war meine Zuflucht als Teenager, als ich das Gefühl hatte, wenig Kontrolle über alle anderen Aspekte meines Lebens zu haben. Während meines Berufslebens hatte es mir zum Stressabbau gedient. Es war zu meiner Rettung geworden, als ich nichts anderes mehr hatte. Auf dem Rücken eines Pferdes fühlte ich mich unversehrt, vollständig, verbunden mit jenem lebenswichtigen Punkt in meinem Zentrum, der sich mir ansonsten verschlossen hatte, und das Chaos in mir fand sein Gleichgewicht.
    D’Artagnon und ich bewegten uns über die Sandbahn durch die letzten Fetzen des morgendlichen Bodennebels, die Muskeln des Pferdes wölbten sich und zuckten, die Hufe trafen den Boden in perfektem Metronomrhythmus. Ich knetete den linken Zügel, verlagerte das Gewicht nach hinten, presste meine Waden an seine Flanken. Die Energie ging von seiner Hinterhand aus, über seinen Rücken; sein Hals wölbte sich und seine Knie hoben sich in dem stilisierten Zeitlupentrott, den man Passage nennt. Er schien unter mir fast zu gleiten, zu hüpfen wie ein riesiger, weicher Ball. Ich hatte das Gefühl, er würde sich gleich in die Lüfte schwingen, wenn ich nur gewusst hätte, welches geheime Wort ich ihm zuflüstern musste.
    Wir kamen in der Mitte der Reitbahn zum Halten, an der als X bekannten Stelle. In diesem Moment empfand ich Freude und Frieden.
    Ich ließ die Zügel auf seinen Hals sinken und tätschelte ihn. Er senkte den Kopf, ging vorwärts, blieb dann stehen und stellte die Ohren auf.
    Ein Mädchen saß auf dem weißen Holzgatter, das an der Straße entlang führte. Sie beobachtete mich erwartungsvoll. Obwohl ich sie nicht bemerkt hatte, war mir klar, dass sie dort saß und wartete. Ich schätzte sie auf etwa zwölf. Ihr Haar war lang und braun, ganz glatt, mit zwei Spangen ordentlich aus dem Gesicht gehalten. Sie trug eine kleine runde Brille mit schwarzer Fassung, die sie sehr ernst aussehen ließ. Ich ritt mit einem vagen Gefühl von Vorahnung auf sie zu, das in jenem Augenblick keinen Sinn ergab.
    »Kann ich dir helfen?«, fragte ich. D’Ar blies sie durch die Nüstern an, zur Flucht bereit, um uns vor dem Eindringling zu retten. Ich hätte ihn lassen sollen.
    »Ich möchte zu Ms. Estes«, sagte sie förmlich, als handele es sich um etwas Geschäftliches.
    »Elena Estes?«
    »Ja.«
    »Und du bist …?«
    »Molly Seabright.«
    »Tja, Molly Seabright, Ms. Estes ist augenblicklich nicht hier.«
    » Sie sind Ms. Estes«, verkündete sie. »Ich hab Ihr Pferd erkannt. Sein Name ist D’Artagnon, wie in den Drei Musketieren .« Ihre Augen wurden schmal. »Sie haben Ihr Haar abgeschnitten.« Missbilligung.
    »Kenne ich dich?«
    »Nein.«
    »Woher kennst du mich dann?«, fragte ich, während mir die Vorahnung wie Galle durch die Brust in die Kehle stieg. Vielleicht war sie eine Verwandte von Hector Ramirez, wollte mir sagen, wie sehr sie mich hasste. Vielleicht war sie als Lockvogel von einem
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