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Schattenpferd

Titel: Schattenpferd
Autoren: Tami Hoag
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auf , mit wildem Blick , high von seinem selbst aufgekochten Crystal . Er atmet schwer . Er hat eine Waffe in der Hand .
    Scheiße .
    Die Vordertür kracht nach innen auf .
    Eines der Mädchen schreit .
    Buddy Golam brüllt :» Bullen !«
    Billy Golam richtet seine 375er auf mein Gesicht . Ich mache meinen letzten Atemzug .
    Und dann öffnete ich die Augen, und mir wurde schlecht bei der Erkenntnis, dass ich immer noch am Leben war.
    So wachte ich seit zwei Jahren jeden Morgen auf. Ich hatte die Erinnerung so oft durchlebt, dass es mir wie ein sich ständig wiederholender Film vorkam. Nichts davon änderte sich, kein Wort, kein Bild. Das ließ ich nicht zu.
    Ich lag im Bett und dachte daran, mir die Pulsadern aufzuschneiden. Nicht als abstrakter Gedanke, sondern als praktische Erwägung. Im gedämpften Licht der Nachttischlampe betrachtete ich meine Handgelenke – zart, zerbrechlich wie die Flügel eines Vogels, Haut so dünn wie Papier, blau geädert – und überlegte, wie ich es machen würde. Diese dünnen blauen Striche kamen mir wie Demarkationslinien vor. Richtlinien. Schneiden Sie hier .
    Ich stellte mir die nadeldünne Spitze eines Entbeinungsmessers vor. Das Lampenlicht würde sich in der Klinge spiegeln. Blut würde austreten, während die Klinge an der Vene entlangfuhr. Rot. Meine Lieblingsfarbe.
    Die Vorstellung ängstigte mich nicht. Die Wahrheit ängstigte mich viel mehr.
    Ich schaute auf die Uhr. Vier Uhr achtunddreißig. Meine üblichen viereinhalb unruhigen Stunden Schlaf. Mehr zu versuchen, war vergebliche Liebesmüh.
    Zitternd zwang ich meine Beine über die Bettkante und stand auf, legte mir eine dunkelblaue Chenilledecke um die Schultern. Der Stoff war weich, angenehm, warm. Ich kostete das Gefühl aus. Je näher man dem Tod war, desto lebendiger fühlt man sich hinterher.
    Ich fragte mich, ob Hector Ramirez das in dem Sekundenbruchteil, bevor er starb, ebenfalls erkannt hatte.
    Das fragte ich mich jeden Morgen.
    Ich ließ die Decke fallen und ging ins Badezimmer.
    »Guten Morgen, Elena. Du siehst grauenhaft aus.«
    Zu dünn. Haare ein wildes, schwarzes Gewirr. Augen zu groß, zu dunkel, als brächte sie von innen nichts zum Leuchten. Die Crux meines Problems: Mangel an Substanz. Es gab – gibt – eine vage Symmetrie in meinem Gesicht, wie bei einer zerbrochenen Porzellanvase, die sorgfältig wieder zusammengeklebt wurde. Dieselbe Vase wie vorher, und doch nicht dieselbe. Etwas schief und seltsam ausdruckslos.
    Früher war ich mal eine Schönheit.
    Ich griff nach dem Kamm auf der Ablage, ließ ihn fallen, nahm stattdessen die Bürste. Unten anfangen, sich nach oben durcharbeiten. Wie das Kämmen eines Pferdeschweifs. Vorsichtig die verhedderten Stellen ausbürsten. Aber ich war es schon leid, mich anzusehen. Wut und Groll gegen mich kochten in mir hoch, und ich riss die Bürste durch mein Haar, schob die Knoten zusammen und hieb mit der Brüste mitten rein.
    Eine knappe Minute lang versuchte ich, das Zeug rauszukriegen, zog an der Bürste, zerrte an den Haaren über dem Knoten, kümmerte mich nicht darum, dass ich sie mit der Wurzel ausriss. Ich fluchte laut, schlug nach meinem Spiegelbild, fegte den Zahnputzbecher und die Seifenschale in meiner Wut krachend auf den Fliesenboden hinunter. Ruckartig öffnete ich eine Schublade des Frisiertisches und nahm eine Schere heraus.
    Wütend, zitternd und schwer atmend schnitt ich den Knoten ab. Er fiel auf den Boden, umgeben von einem dicken schwarzen Haarbüschel. Der Druck auf meine Brust ließ nach. Betäubung durchrann mich wie Regen. Stille.
    Ohne Emotion fuhr ich fort, den Rest meiner Mähne abzusäbeln. Innerhalb von zehn Minuten hatte ich einen Jungsschnitt, einen struppigen Schopf, der wie nach einem Stromschlag in alle Richtungen abstand. Doch ich hatte in der Vogue schon Schlimmeres gesehen.
    Ich kehrte alles zusammen – das abgeschnittene Haar, das zerbrochene Glas –, warf es in den Abfalleimer und verließ das Bad.
    Mein ganzes Leben hatte ich mein Haar lang getragen.
     
    Der Morgen war kühl, eingehüllt in einen dicken Bodennebel, die Luft erfüllt mit den feuchten Gerüchen Südfloridas: grüne Pflanzen und der schlammige Kanal, der hinter dem Grundstück vorbeiführte; Schlamm und Dung und Pferde. Ich stand auf dem Patio des kleines Gästehauses, in dem ich wohnte, und atmete tief ein.
    Ich war als Flüchtling hierher gekommen. Arbeitslos, wohnungslos, ein Paria in meinem erwählten Beruf. Unerwünscht, ungeliebt, ausgestoßen.
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