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Schattenpferd

Titel: Schattenpferd
Autoren: Tami Hoag
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niemand schuld war?

60
    Zur ungewissen Stunde vor Tagesanbruch Kurz vor dem Ende der endlosen Nacht
     
    Ich erinnerte mich wieder an diese Zeilen, als ich mit angezogenen Knien auf meinem Patio saß und am Tag, nachdem Chad Seabright eine Absprache mit dem Staatsanwalt ausgehandelt hatte, den Sonnenaufgang beobachtete.
    Chad hatte sich gegen Erin gewandt. Erin hatte sich gegen Paris Montgomery gewandt. Paris hatte Van Zandt als Mörder von Jill Morone bloßgestellt, um damit beim Staatsanwalt Punkte zu machen. Sie verdienten alle, in der Hölle zu schmoren.
    Ich dachte an Molly und versuchte T. S. Eliots Worte als Überschrift für das zu betrachten, was sie durchmachte, und für ihren Lebensweg. Ich wollte nur ungern bei der Ironie verweilen, dass es Molly gewesen war, die ihre Familie wieder zusammenbringen wollte, als sie mich dafür engagierte, ihre Schwester zu finden, und am Ende als Einzige übrig geblieben war.
    Bruce Seabright war tot. Krystals Verstand war zerstört. Wenn sie je eine echte Stütze für Molly gewesen war, dann war es zweifelhaft, ob sie es jemals wieder sein würde. Und Erin, die Schwester, die Molly so sehr geliebt hatte, war für immer für sie verloren. Wenn nicht durch die Gefängnisstrafe, dann durch Erins Betrug.
    Das Leben kann sich innerhalb eines Herzschlags ändern, in einem Augenblick, in der Zeit, die man braucht, um eine falsche Entscheidung zu treffen … oder eine richtige.
    Ich hatte Molly am Abend zuvor von Erins Beteiligung an der ganzen Sache erzählt und sie in den Armen gehalten, während sie sich in den Schlaf weinte.
    Jetzt kam sie auf den Patio, in eine riesige grüne Decke gewickelt, kletterte auf die Bank und rollte sich neben mir zusammen, ohne ein Wort zu sagen. Ich strich ihr über das Haar und wünschte, ich hätte die Macht, diesen Augenblick sehr, sehr lange auszudehnen.
    Nach einer Weile fragte ich schließlich: »Also, was weißt du über diese Tante Maxine?«
    Das Büro des Sheriffs hatte Krystal Seabrights einzige lebende Verwandte in dieser Gegend ausfindig gemacht, eine Witwe in den Sechzigern, die in West Palm Beach lebte. Ich sollte Molly heute Nachmittag zu ihr bringen.
    »Sie ist ganz okay«, erwiderte Molly ohne Begeisterung. »Sie ist … normal.«
    »Tja, das wird größtenteils überschätzt.«
    Wir schwiegen wieder, schauten nur über die Felder zum Sonnenaufgang. Ich suchte unbeholfen nach Worten.
    »Weißt du, es tut mir furchtbar Leid, was da am Ende passiert ist, Molly. Aber es tut mir nicht Leid, dass du damals zu mir gekommen bist und mich um Hilfe gebeten hast. Durch dich bin ich ein besserer Mensch geworden. Und wenn mir diese olle Maxine nicht gefällt«, fügte ich in meinem düstersten Ton hinzu, »kommst du sofort wieder mit mir nach Hause.«
    Molly schaute durch ihre eulenartigen Brillengläser zu mir hoch und lächelte zum ersten Mal, seit ich sie kannte. Großtante Maxine wohnte in einem hübschen Apartmentkomplex und schien genau so zu sein wie angekündigt: normal. Ich half Molly mit ihren Sachen und blieb auf eine Tasse Kaffee und frisch gebackene Haferflockenplätzchen. Normal.
    Molly brachte mich hinaus, und wir durchlitten unseren Abschied.
    »Du weißt, dass du mich jederzeit wegen allem anrufen kannst, Molly«, schärfte ich ihr ein. »Oder auch wegen nichts.«
    Sie schenkte mir ein sanftes, weises Lächeln und nickte. Hinter ihren Brillengläsern standen Tränen in ihren ernsten blauen Augen. Sie gab mir eine kleine, aus Briefpapier ausgeschnittene Karte, auf die sie in Druckbuchstaben ihren Namen, die neue Adresse und Telefonnummer neben einen winzigen lilafarbenen Stiefmütterchenaufkleber geschrieben hatte.
    »Du musst mir noch die Endabrechnung schicken«, sagte sie. »Ich schulde dir bestimmt eine Menge Geld. Ich muss dich ratenweise bezahlen. Wir können bestimmt was vereinbaren.«
    »Nein«, murmelte ich. »Du schuldest mir überhaupt nichts.«
    Ich drückte sie lange und fest an mich. Wenn ich gekonnt hätte, dann hätte ich geweint.
    Als ich zum Reitstall zurückkam, verabschiedete sich der Tag und die Sonne goss geschmolzenes Orange über den flachen Horizont im Westen. Ich parkte mein Auto und ging langsam zum Stall.
    Irina hatte Feliki zu beiden Seiten mit Anbinderiemen festgemacht, besprühte ihre Beine mit Haselnuss und Alkohol und verband sie für die Nacht.
    »Wie läuft’s?«, fragte ich.
    »Bestens«, erwiderte sie, darauf konzentriert, die rechte vordere Bandage genauso perfekt zu wickeln wie die
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