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Schattenpferd

Titel: Schattenpferd
Autoren: Tami Hoag
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Alles wohlverdient. Seit zwei Jahren war ich nicht mehr in meinem Beruf tätig, hatte die meiste Zeit in Krankenhäusern verbracht, wo die Arzte die Schäden reparierten, die meinem Körper an jenem Tag beim Wohnwagen der Golam-Brüder zugefügt worden waren. Sie mussten gebrochene Knochen richten, zerrissenes Fleisch flicken, die linke Seite meines Gesichts wie ein dreidimensionales Puzzle zusammensetzen. Mit meiner Psyche hatten sie weniger Erfolg gehabt.
    Da ich etwas zu tun brauchte, bevor ich mich endgültig entschloss, nach dem Entbeinungsmesser zu greifen, hatte ich auf eine Anzeige in Sidelines geantwortet, einer lokalen, zweiwöchigen Zeitschrift für Pferdeliebhaber: PFERDEPFLEGERIN GESUCHT.
    Das Leben ist seltsam. Ich will nicht daran glauben, dass irgendwas vorbestimmt ist. Wenn man daran glaubt, muss man auch die Existenz eines grausamen höheren Wesens hinnehmen, um solche Dinge wie Kindesmisshandlung und Vergewaltigung und Aids und die Erschießung guter Männer im Dienst zu erklären. Aber gelegentliche Wendungen des Schicksals machen mich doch nachdenklich.
    Die Telefonnummer in der Anzeige gehörte Sean Avadon. Ich hatte Sean vor hundert Jahren während meiner Reiterzeit gekannt, als ich ein verwöhnter, launischer Palm-Beach-Teenager und er ein verwöhnter, zügelloser junger Mann in den Zwanzigern war, der sein Treuhandvermögen für Pferde und verrückte Liebschaften mit hübschen Jungs aus Schweden oder Deutschland ausgab. Wir waren Freunde geworden, und Sean hatte immer behauptet, ich bräuchte ihn als Ersatzsinn für Humor und Mode.
    Unsere Familien hatten zwei Villen voneinander entfernt auf der Lake-Worth-Seite der schmalen Insel gewohnt, Seans Vater ein Immobilienmagnat, meiner ein Anwalt der reichsten Ganoven Südfloridas. Der Vermieter von Elendsquartieren und der Winkeladvokat, beide Väter von undankbaren Nachkommen. Sean und ich hatten uns durch die Verachtung für unsere Eltern und die Liebe zu Pferden verbunden gefühlt. Wilde Kinder mal zwei.
    All das kam mir so fern vor wie ein Traum, an den ich mich kaum noch erinnern konnte. So viel war seit damals passiert. Ich hatte Palm Beach verlassen, hatte jene Welt verlassen. Bildlich gesprochen, hatte ich in einem anderen Universum gelebt und war dort gestorben. Dann antwortete ich auf diese Anzeige: PFERDEPFLEGERIN GESUCHT.
    Ich bekam den Job nicht. Trotz meiner schlechten Verfassung nahm selbst ich das Mitleid in seinen Augen wahr, als wir uns im Players auf einen Drink trafen. Ich war ein dunkler Schatten des Mädchens, das Sean vor zwanzig Jahren gekannt hatte, so jämmerlich, dass ich nicht den Stolz hatte, geistige Gesundheit vorzutäuschen. Ich schätze, das hätte der Tiefpunkt sein können. Gut möglich, dass ich an jenem Abend in meine Mietwohnung zurückgegangen wäre und dieses Entbeinungsmesser rausgesucht hätte.
    Stattdessen nahm Sean mich auf wie eine streunende Katze – ein immer wiederkehrendes Thema in meinem Leben. Er brachte mich in seinem Gästehaus unter und bat mich, mit zwei seiner Pferde während der Wintersaison zu arbeiten. Er behauptete, er bräuchte die Hilfe. Sein Extrainer/Exlover war mit dem Pferdepfleger nach Holland abgehauen und hatte Sean im Stich gelassen. Sean ließ es so klingen, als würde er mir einen Job geben. Was er mir gab, war ein Hinrichtungsaufschub.
    Drei Monate waren seitdem vergangen. Ich dachte immer noch an Selbstmord, und jeden Abend nahm ich ein Fläschchen Vicodin aus dem Nachttisch, leerte die Tabletten aus, betrachtete sie, zählte sie und dachte daran, dass schon eine Tablette die körperlichen Schmerzen lindern würde, die meine täglichen Begleiter waren seit »dem Vorfall«, wie mein Anwalt es nannte. (Wie steril und harmlos das klang. Ein kleiner, unerfreulicher Abschnitt, den man vom Gewebe des Lebens wegschnippen und isolieren kann. Welcher Gegensatz zu meinen Erinnerungen.) Eine Tablette konnte den Schmerz lindern. Dreißig konnten ihn beenden. Ich besaß einen Vorrat von dreihundertsechzig Tabletten.
    Jeden Abend betrachtete ich die Tabletten, tat sie dann in das Fläschchen zurück und stellte es weg. Ich hatte noch nie eine genommen. Mein Abendritual.
    Mein Tagesritual der letzten drei Monate war die Routine von Seans Reitstall und der mit seinen Pferden verbrachten Zeit. Ich fand beide Rituale tröstlich, aber aus verschiedenen Gründen. Die Tabletten waren eine Verbindung zum Tod, und jeder Abend, an dem ich sie nicht nahm, war ein Sieg. Die Pferde waren eine
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