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Schattenmacht

Schattenmacht

Titel: Schattenmacht
Autoren: Anthony Horowitz
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NATHAL3. In dieser Gegend gab es nur wenige Straßen, und die Entfernungen waren gewaltig. Sie konnten nicht entkommen.
    Der Mercedes raste mit halsbrecherischer Geschwindigkeit über die Landstraße. Alicia wusste schon jetzt, dass ihre Flucht ein Fehler gewesen war. Damit hatte sie sie zu einem Ziel gemacht. Sie rechnete jeden Moment damit, an eine größere Straßensperre zu geraten. Wahrscheinlich waren auch schon Hubschrauber in der Luft. Sie hatte den Polizeiwagen zwar aus den Augen verloren, aber sie konnte ihn hören, denn die Beamten hatten die Sirene eingeschaltet. Er war höchstens einen Kilometer hinter ihnen.
    Sie rasten durch einen kleinen Ort mit Supermärkten und Läden, in denen Bootszubehör und Skiausrüstungen verkauft wurden. So war das am Lake Tahoe – Bootfahren im Sommer, Skifahren im Winter. Auf der linken Seite konnten sie jetzt gelegentlich einen Blick auf den See erhaschen, das eisblaue Wasser hinter den Kiefern, die am Ufer wuchsen. Sie fuhren immer noch schnell, und der Polizeiwagen schien etwas zurückgefallen zu sein. Zumindest klang seine Sirene jetzt etwas gedämpfter. Alicia suchte nach einer Möglichkeit, die Straße zu verlassen – aber es gab keine Abzweigung und kein Versteck. Auf der einen Seite war der See. Auf der anderen war ein felsiger Steilhang und darüber noch mehr Bäume, die bis in den Himmel zu reichen schienen.
    Sie waren auf der Straße gefangen, und Jamie war zu demselben Schluss gekommen wie Alicia. Sie würden es nicht schaffen. Was würde passieren, wenn sie verhaftet wurden? John Trelawny würde ihnen helfen – aber rechtzeitig? Ein einziger Polizist, der die richtige Summe kassiert hatte, reichte aus, um sie für immer verschwinden zu lassen.
    Sie rasten durch einen in den Fels gehauenen Tunnel. Vor ihnen machte die Straße eine Rechtskurve.
    Und da hörte Jamie es. Ein Flüstern in seinem Kopf.
    » Halt den Wagen an… «
    Vier Worte. Aber sie waren nicht gesprochen worden. Und er hatte sie sich auch nicht eingebildet. Plötzlich war er furchtbar aufgeregt. Scott hatte sie geschickt! Endlich hatte er Kontakt zu ihm!
    »Halt!«, schrie er.
    Alicia raste weiter.
    »Alicia! Halt an! Sofort!«
    Die Dringlichkeit in seiner Stimme wirkte. Daniel drehte sich zu ihm um und sah ihn an, als wäre er verrückt geworden, aber Alicia trat mit voller Wucht auf die Bremse. Der Wagen schlitterte quer über die Straße und blieb auf dem Randstreifen stehen. Der Motor starb ab. Irgendwo hinter ihnen heulten Sirenen.
    »Jamie…«, begann Alicia.
    Sie war den Tränen nahe und gab sich die Schuld für alles. Aber als Jamie sich umsah, wurde ihm etwas klar.
    Er wusste, wo er war. Er war schon einmal hier gewesen.
    Vor vier oder fünf Jahren. Vor Don und Marcie. Sogar vor Ed und Leanne. Ihre Sozialarbeiterin Derry war mit ihnen hergefahren, um ihnen die Stelle zu zeigen, an der sie gefunden worden waren. Es war genau auf diesem Randstreifen gewesen, kurz hinter dem Tunnel. An diesem Ort waren die zwei Babys in einem Karton für Grassaat ausgesetzt worden.
    Sie hatte ihnen auch etwas über die Gegend erzählt. Derry zufolge hatten hier seit mindestens zehntausend Jahren WashoeIndianer gelebt. Das war auch der Grund für ihre Vermutung, dass Jamie und Scott ebenfalls Washoe waren. Lake Tahoe war das Zentrum ihrer Welt gewesen, und irgendwo unter ihnen lag eine Höhle, die ihnen so heilig gewesen war, dass Touristen nicht einmal in ihre Nähe durften. Selbst die Schamanen hatten sie niemals betreten.
    Die Washoe nannten diesen Ort de’ek wadapush, was Felsenhöhle bedeutete.
    »Wir steigen hier aus«, sagte Jamie.
    »Jamie…« Seine Stimme verriet Alicia, dass es sinnlos war, mit ihm zu streiten. Ihnen blieben nur Sekunden. Der Polizeiwagen war zwar noch nicht zu sehen, aber er kam näher.
    »Das ist der Abschied, Alicia.« Jamie hätte nicht sagen können, woher er das wusste. Er wusste es einfach. »Danke, dass du mir geholfen hast. Danke für alles.«
    »Das war dein Verdienst, Jamie. Nicht meiner…«
    »Tschüss, Danny.« Jamie beugte sich vor und gab Alicias Sohn die Hand, dann stieß er die Tür auf. Er stieg aus und wartete, dass Scott ihm folgte. Auch Alicia war ausgestiegen. Sie hatten keine Zeit mehr. Sie drückte Jamie kurz an sich und gab ihm einen Kuss auf die Wange. Dann drückte sie ihm etwas in die Hand. Das Sirenengeheul war plötzlich weg. Einen Moment lang entstand der Eindruck, der Polizeiwagen wäre abgebogen oder hätte eine Panne, aber diese Hoffnung
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