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Schattenkinder

Schattenkinder

Titel: Schattenkinder
Autoren: Margaret Peterson Haddix
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zum Rascheln brachte. Luke hatte das Haus seit einer Woche nicht verlassen und er konnte fast hören, wie die Welt draußen nach ihm rief. Dabei durfte er sich jetzt nicht einmal mehr in einem Zimmer mit unverhängtem Fenster aufhalten.
    »Du willst wohl unbedingt entdeckt werden?«, hatte der Vater an jenem Morgen gebrüllt, als Luke das Rouleau des Küchenfensters ein paar Zentimeter angehoben und sehnsüchtig hinausgestarrt hatte.
    Luke zuckte zusammen. Er war so sehr in die Vorstellung vertieft gewesen, barfuss durch das Gras zu laufen, dass er fast vergessen hatte, dass außer ihm noch jemand im Haus war.
    »Draußen ist keiner«, sagte er und sah noch mal hinaus, um sich zu vergewissern. Er hatte versucht nicht weiter als bis zum aufgerissenen Gartenende zu blicken, nicht hinaus auf das niedergewalzte Durcheinander aus Zweigen, Stämmen, Blättern und Erde, das einmal sein geliebter Wald gewesen war.
    »Ach ja?«, sagte der Vater. »Ist dir je in den Sinn gekommen, dass, wenn dort doch mal einer auftaucht, der dich vielleicht eher sieht als du ihn?«
    Er packte Luke am Arm und riss ihn einen guten halben Meter zurück. Das losgelassene Ende des Rouleaus schlug klappernd gegen den Fenstersims.
    »Du siehst überhaupt nicht mehr hinaus«, befahl der Vater. »Das meine ich ernst. Von jetzt an bleibst du von den Fenstern weg. Und du kommst nicht eher ins Zimmer, bis das Rouleau runtergelassen oder der Vorhang vorgezogen ist.«
    »Aber dann kann ich doch gar nichts sehen«, protestierte Luke.
    »Besser als verhaftet zu werden«, erwiderte der Vater.
    Er klang, als habe er Mitleid mit Luke, aber das machte die Sache nur noch schlimmer. Luke drehte sich um und ging weg, aus Angst, er könnte vor seinem Vater anfangen zu weinen.
    Jetzt gab er der Spielzeugeisenbahn einen Schubs und sie kippte vom Gleis. Mit kreisenden Rädern landete sie auf dem Rücken.
    »Was soll's«, murmelte Luke.
    Ein lautes Klopfen kam von der Tür.
    »Aufmachen! Bevölkerungspolizei!«
    Luke rührte sich nicht.
    »Das ist nicht witzig, Mark!«, rief er.
    Mark öffnete die Tür und sprang die Treppe hoch, die zu Lukes eigentlichem Zimmer führte. Lukes Zimmer war gleichzeitig der Dachboden, eine Tatsache, die ihn nie gestört hatte. Mutter hatte vor langer Zeit sämtliche Koffer und Truhen, so weit es ging, in die Giebelecken geschoben, so dass jede Menge Platz blieb für Lukes Messingbett, den runden Flickenteppich, Bücher und Spielsachen. Luke hatte sogar gehört, wie Matthew und Mark sich darüber beklagten, dass er das größte Zimmer hätte. Doch ihre Zimmer hatten Fenster.
    »Diesmal hab ich dir Angst eingejagt, stimmt's?«, fragte Mark.
    – 8 –
    Margaret Peterson Haddix - Schattenkinder
    »Nein«, erwiderte Luke. Nichts könnte ihn dazu bringen, zuzugeben, dass ihm das Herz fast in die Hose gerutscht war. Mark machte den Witz mit der Bevölkerungspolizei seit Jahren, immer außer Hörweite der Eltern. Normalerweise hörte Luke gar nicht mehr hin, aber jetzt, wo sein Vater so nervös war ... Was hätte Luke getan, wenn es wirklich die Bevölkerungspolizei gewesen wäre? Was würden sie mit ihm machen?
    »Matt und ich haben noch nie irgendwem von dir erzählt«, sagte Mark ungewöhnlich ernst. »Und du weißt, dass Mutter und Vater kein Sterbenswörtchen verraten würden. Außerdem bist du gut im Verstecken. Also bist du sicher, verstehst du?«
    »Ich weiß«, murmelte Luke.
    Mark stieß mit dem Fuß gegen die Spielzeugeisenbahn, die Luke aus dem Gleis geworfen hatte. »Spielst du immer noch mit dem Babykram?«, fragte er, als müsse er seine Freundlichkeit ausgleichen.
    Luke zuckte die Achseln. Normalerweise wäre es ihm wichtig gewesen, Mark nicht sehen zu lassen, dass er immer noch mit der Eisenbahn spielte. Aber heute war alles andere so schlimm, dass es keine Rolle spielte.
    »Bist du nur hochgekommen, um mich zu ärgern?«, fragte Luke.
    Mark machte ein beleidigtes Gesicht.
    »Ich dachte, du hast vielleicht Lust, Dame zu spielen«, meinte er.
    Luke warf ihm einen schrägen Blick zu.
    »Mutter hat dich geschickt, oder?«, fragte er.
    »Nein.«
    »Du lügst«, sagte Luke, dem es egal war, wie böse er klang.
    »Also, wenn du so drauf bist...«
    »Lass mich einfach in Ruhe, okay?«
    »Schon gut, schon gut.« Mark trat den Rückzug an. »Meine Güte!«
    Als er wieder allein war, bereute es Luke ein bisschen, so abweisend gewesen zu sein. Vielleicht hatte Mark gar nicht gelogen. Es war vielleicht besser, sich zu entschuldigen. Aber
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