Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Schattenkinder

Schattenkinder

Titel: Schattenkinder
Autoren: Margaret Peterson Haddix
Vom Netzwerk:
beschwerten sich darüber, jammerten »Mensch, wir müssen Hausaufgaben machen!« und »Wer interessiert sich schon für Rechtschreibung?«. Aber sie erzählten auch von Spielen auf dem Schulhof und von ihren Freunden, die in der Mittagspause ihre Süßigkeiten mit ihnen teilten und ihnen Schnitzmesser ausliehen.
    Aber anscheinend wurde Luke niemals so alt wie Matthew und Mark.
    An seinem sechsten Geburtstag hatte Mutter einen Kuchen gebacken, einen ganz besonderen, mit Himbeergelee, der an den Seiten herabtropfte. An diesem Abend steckte sie beim Abendessen sechs Kerzen auf den Kuchen, stellte ihn vor Luke und sagte: »Wünsch dir was.«
    Während er auf den Kreis aus Kerzen starrte und stolz darauf war, dass die Anzahl seiner Lebensjahre endlich für einen richtigen Kreis auf dem Kuchen reichte, musste er plötzlich an einen anderen Kuchen denken und an einen anderen Kreis aus sechs Kerzen. Marks. Er dachte an Marks sechsten Geburtstag. Er erinnerte sich daran, weil Mark selbst mit dem Kuchen vor der Nase noch gejammert hatte: »Aber ich will ein richtiges Fest. Robert Joe hatte auch ein richtiges Geburtstagsfest. Er durfte drei Freunde einladen.« Mutter hatte nur »psst« gemacht, von Mark zu Luke hinübergeblickt und ihm mit den Augen etwas zu verstehen gegeben, was Luke nicht begriff.
    Verwirrt von dieser Erinnerung hatte Luke seufzend ausgeatmet. Zwei der Kerzen flackerten und eine ging aus. Matthew und Mark lachten.
    »Aus dem Wunsch wird nichts«, meinte Mark. »Du Baby. Nicht mal ein paar Kerzen kannst du ausblasen.«
    Luke hätte am liebsten losgeweint. Er hatte den Wunsch völlig vergessen, aber wenn er nicht so überrascht gewesen wäre, hätte er sehr wohl alle sechs Kerzen ausgeblasen. Er wusste, er hätte es geschafft. Und dann hätte er - ach, er wusste nicht, was - bekommen. Er hätte mit dem Pritschenwagen in die Stadt mitfahren dürfen. Er hätte im Vorgarten spielen dürfen. Er hätte zur Schule gehen dürfen. Stattdessen blieb ihm nichts als diese merkwürdige Erinnerung, die unmöglich stimmen konnte. Sicher war der Geburtstag, an den Luke sich erinnerte, Marks siebter oder vielleicht sein achter gewesen. Mark konnte Robert Joe mit sechs Jahren noch gar nicht gekannt haben, weil er sich in diesem Alter noch verstecken musste, so dachte Luke.
    Drei Tage lang hatte er darüber nachgegrübelt. Er war hinter seiner Mutter hergetrottet, während sie Wäsche aufhängte, Erdbeermarmelade einkochte, den Badezimmerboden schrubbte. Verschiedene Male hatte er zu fragen versucht: »Wie alt muss ich sein, bevor die Leute mich sehen dürfen?« Aber jedes Mal hielt ihn etwas davon ab.
    Schließlich, am vierten Tag, nachdem der Vater, Matthew und Mark ihre Stühle vom Frühstückstisch zurückgeschoben und sich auf den Weg zur Scheune gemacht hatten, kauerte Luke unter dem kleinen Küchenfenster, aus dem er nicht hinausschauen durfte, weil Vorbeifahrende sein Gesicht entdecken könnten.
    Er drehte den Kopf zur Seite und reckte sich gerade so weit, dass es ihm gelang, mit dem linken Auge über die Fensterbank zu spähen. Er sah, wie Matthew und Mark durch das helle Sonnenlicht rannten und die
    – 5 –
    Margaret Peterson Haddix - Schattenkinder
    Ränder ihrer hohen Gummistiefel dabei gegen ihre Knie schlugen. Es schien, als könne alle Welt sie sehen, und sie kümmerten sich nicht darum. Sie stürmten zur Vordertür der Scheune, nicht zur Hintertür, die man durch den Garten hinter dem Haus erreichte und die Luke immer benutzen musste, weil sie von der Straße aus nicht zu sehen war.
    Luke drehte sich um und ließ sich auf den Boden gleiten, außer Sicht.
    »Matthew und Mark haben sich nie verstecken müssen, stimmt's?«, fragte er.
    Mutter entfernte gerade die Überreste der Rühreier aus der Bratpfanne. Sie drehte den Kopf und sah ihn aufmerksam an.
    »Nein«, antwortete sie.
    »Und warum muss ich's dann?«
    Sie trocknete sich die Hände ab und ging vom Spülbecken weg, etwas, das Luke fast noch nie erlebt hatte, solange noch schmutziges Geschirr abzuspülen war. Sie hockte sich neben ihn und strich ihm das Haar aus der Stirn.
    »O Lukie, willst du das wirklich wissen? Reicht es nicht, wenn du weißt - dass es bei dir einfach anders ist?«
    Er dachte darüber nach. Mutter sagte immer, dass er der Einzige war, der je auf ihrem Schoß saß und sich ankuschelte. Sie las ihm immer noch Gutenachtgeschichten vor - Luke wusste, dass Matthew und Mark das für mimosenhaft hielten. War es das, was sie meinte? Aber er
Vom Netzwerk:

Weitere Kostenlose Bücher