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Schatteninsel

Schatteninsel

Titel: Schatteninsel
Autoren: Marko Hautala
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sollte es im Auto geschehen, im Schutz der Karosserie. Sie sah, wie Aaron sich zu dem Jungen herunterbeugte, seinen wirren Kopf mit beiden Händen festhielt, etwas sagte. Da schlug Miro zu. Jenni erkannte seine Absicht sofort, aber Aaron ganz offensichtlich nicht. Er war so oft weg. Miros Faust schoss schnell und präzise zwischen Aarons Beine. Aaron fluchte und krümmte sich, ließ den Kopf des Jungen aber nicht los.
    »Oh nein«, stöhnte Jenni hilflos und stieß die Tür auf. »Bestimmt hat er einen Elch gesehen. Wirklich.«
    Sie wollte Aaron beruhigen, doch ihre Stimme klang gehetzt. Kaum hatte sie die Straße verlassen, rutschte ihr Fuß in einen Felsspalt. In ihrem schwankenden Blickfeld sah Jenni, wie Aaron die Hand hob. Das Licht der untergehendenSonne vergoldete seine Handfläche. Eine schöne, faszinierende, bedeutungslose Beobachtung, die Aaron nicht interessieren würde.
    »Nicht«, flehte Jenni und fiel auf den Rücken. Die Wolken waren länglich, wie Pinselstriche, mit Purpurrändern. Links, dort, wohin das Licht nicht reichte, verfinsterte sich der Himmel. Miros Weinen begann mit einem Schrei. Jenni lag kraftlos da und presste die Arme auf die Brust, dachte an den festen Blick der Puppe, die tiefer sank, sich im Meer niederließ.
    −
    Wenn die Erinnerungen ausblieben, sah Markus nur das Zimmer und die Frau vor sich, die etwas sagte. Nachts sah er im Dämmerlicht die Decke und die Wände, an die das Mondlicht sich ausdehnende Vierecke warf. Sie waren so bedeutungslos wie die Lippenbewegungen der Frau und ihr wechselndes Mienenspiel bei Tageslicht. Er betrachtete sie, unfähig, sich zu bewegen oder Zusammenhänge zwischen Gesichtsausdrücken und Worten zu sehen. Nur die Erinnerungen erlaubten ihm, sie als Menschen zu erkennen, der Hände hatte, Finger, die sich bewegten. Beine, die einen trugen, wohin man wollte.
    Markus erinnerte sich jetzt an das Geräusch des Meeres, den Geruch des heißen Sandes, die dämmrige Umkleidekabine. Die Erinnerung kam plötzlich wie eine große Welle, sie riss ihn mit, verwirrte den Orientierungssinn und das Zeitgefühl. Dann fanden die Geräusche und Düfte ihren Platz. Die Arme fühlten sich leichter an. Die Lunge bewegte sich mühelos, leicht wie die Luft.Zwielicht.
    Das Zwielicht in der Umkleidekabine war voller Farben, Nachbilder des blendenden Sonnenscheins. Das Schimmern der Wellen blinkte durch die Öffnung über der Tür herein, spiegelte sich an der Decke. Hier war der Sand noch nachtkühl. Er dämpfte das Brennen an den Fußsohlen. Man brauchte die Füße nicht abwechselnd zu lüpfen wie ein in den Frost hinausgetriebenes Schoßkätzchen.
    Er war mit Jenni in die Kabine gelaufen, weil der griechische Strandwärter gekommen war, um mit ihren Eltern zu reden, und sie das schlechte Englisch von Markus’ Mutter nicht ertrugen. Das Beste war, dass Jennis kleine Schwester Ina nicht mitgekommen war. Ina ging noch in die Unterstufe, und das merkte man. Markus und Jenni würden im Herbst in die achte Klasse gehen.
    Der Sand an diesem Strand war nicht hell, es war schwarzgrauer Lavasand, der in der Sonne glühend heiß wurde. Markus und Jenni vertrieben sich die Zeit am liebsten damit, ohne Badeschuhe oder Sandalen über den Strand zu laufen, wobei man ein hohes Tempo beibehalten musste, bis man irgendwo eine schattige Stelle fand. Andernfalls wurde die Hitze unter den Fußsohlen so unerträglich, dass man nicht anders konnte als aufzuheulen und ins Wasser zu rennen. Anfangs hatte Jenni das Ganze kindisch gefunden, aber hier befand man sich in einer anderen Welt, in der auch kindisches Treiben erlaubt war. Die Landschaft sah anders aus, die Mitschüler waren weit weg im Norden.
    Markus hatte sich den ganzen Tag ungewöhnlich sicher gefühlt. Am Morgen hatte er auf der Toilette des Hotelzimmers seinen Hautausschlag inspiziert und festgestellt, dass die Flecken verblichen, fast unsichtbar geworden waren. Seine Mutter hatte recht behalten mit ihrer Vorhersage,die Sonne sei heilsam. Sie hatte die Rötungen aufgehellt, bis sie nichts weiter waren als glattere Hautpartien. Man sah sie nur, wenn man den Arm so drehte, dass das Licht in einem bestimmten Winkel auf sie fiel.
    Jennis kleine Schwester Ina war unter dem Sonnenschirm eingeschlafen, erschöpft von der Magenverstimmung, von der sie am Tag zuvor erwischt worden war. Sie hatte auf der Strandliege gelegen, mit blassem Gesicht, gerunzelter Stirn und offenem Mund, als leide sie sogar im Schlaf. Ina war ein Wachhund, der
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