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Schatteninsel

Schatteninsel

Titel: Schatteninsel
Autoren: Marko Hautala
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Text stand in Markus’ Handschrift:
    SO SPRICHT DIE STIMME DES WELTLICHEN WEISEN, DIE NOCH …
    Kein Grund mehr, sich zu eilen, da ohnehin alles verdorben war.
    Ina ließ sich auf einen Stuhl fallen und las. Sie betrachtete Markus’ schwere Buchstaben. Und schließlich auch die Wörter, die unter ihnen standen, leblose, kalte Buchstaben, die in den Augen Gottes und seiner Propheten keine Bedeutung besaßen.

Lieber Markus,
    ich danke dir nicht für deinen Brief, der vermutlich den Tatbestand der strafbaren Drohung erfüllt. Es sei auch klar gesagt, dass ich wahrhaftig nicht beabsichtige, die Claviceps-purpurea-Körner zu essen, die du deinem Brief beigelegt hast. Dagegen erwäge ich, die Sache der Polizei zu melden.
    Ich bin nach wie vor der Meinung, dass deine Obsession hinsichtlich des Mutterkorns der schlimmste Stolperstein deiner Abhandlung über die Hexerei war. Dass du meine Kritik persönlich genommen hast, kann ich nicht ändern. Aber lassen wir die Vergangenheit ruhen. Sofern du im Geringsten bereit und fähig bist, die Stimme der Vernunft zu hören, bitte ich dich, die folgenden Zeilen sorgfältig zu lesen:
    Ich weiß nicht, ob es dir wirklich gelungen ist, dir selbst und den letzten Mörtianern auf Spegelö einzureden, du seist ein Nachkomme von Jakob Mört. Über die Sekte und über Jakob Mört gibt es mehrere Forschungsarbeiten, von denen du als Experte natürlich weißt (z. B. Kallas: Die zum Meer rufenden Heiligen, 1979). Mört hatte keine Nachkommen. Er hat sich ausdrücklich geweigert, sich fortzupflanzen. Und was die Uferkapelle und die Grabhügel auf Spegelö betrifft, die du erwähnst:sie gehen auf den Schiffbruch der mit Salz beladenen Fregatte Gerda im Jahre 1715 zurück. Die Mörtianer kamen erst 1799 auf die Insel, die damals bereits von Spiegelmachern besiedelt war (s. z. B. Hämäläinen 1965), und Ende der 1970er Jahre war ihre Gemeinde bereits stark geschrumpft. Die »Geschichte« Jakob Mörts und seiner Gemeinde, die du mir geschickt hast, erscheint mir, offen gesagt, wie das Produkt eines kranken Hirns. Allerdings fürchte ich, dass gerade Charismatiker wie die Mörtianer an dergleichen glauben können. Ihr überliefertes Wissen hat sich seit jeher vor allem auf die gefühlsbetonte mündliche Predigertradition gestützt und ist deshalb im Lauf der Jahrhunderte nahezu völlig verloren gegangen.
    Markus, hol dir Hilfe. Ich mache mir ernsthaft Sorgen um dich.
    Mit freundlichen Grüßen,
Arvid Langelin
Professor für Allgemeine Geschichte

VI
ALLEIN MIT GOTT

D as tiefe metallische Vibrieren der Fähre stieg an den Reifen hoch, fuhr in die Hände, die das Lenkrad umklammerten, ließ das Trommelfell summen, gleichmäßig und anhaltend.
    Jenni presste die Finger um das Lenkrad, hielt die Schultern gerade und blickte stur nach vorn. Bei jedem Schatten, der an den regennassen Fenstern vorbeihuschte, zuckte sie zusammen, bekämpfte ihre Unruhe mit dem Gedanken, dass die Türen verriegelt waren. Sie hatte nichts mehr zu befürchten. Die Insel Spegelö blieb immer weiter zurück. Außer ihnen waren zwei weitere Wagen auf die Fähre gefahren. Vielleicht stammten die Insassen vom Festland. Vielleicht hatte deshalb niemand versucht, sie aufzuhalten. Vielleicht erschwerte der Regen die Sicht in den Wagen. Das spielte jetzt ohnehin keine Rolle mehr. Sie mussten dem Ufer schon nahe sein.
    Jenni wagte endlich zu atmen. Langsam stieß sie die Luft aus. Betrachtete ihre Hände, auf denen die Flecken an den Fingergelenken und in den Poren bereits zu körnigen Fäden geronnen waren. Die Lichter am Armaturenbrett leuchteten. Das gleichmäßige Summen der Fähre kitzelte in den Ohren. Es wurde von einem Tuscheln begleitet. Einem unablässigen flüsternden Geräusch, wie das Sausen des Windes an den Fensterdichtungen.
    »Miro«, sagte Jenni.
    Ihre Ohren waren wie verstopft. Die Worte waren in ihrem Schädel gefangen. Es schien unmöglich, dass ihre Stimme außerhalb ihres Kopfes erklingen konnte.
    Jenni wiederholte den Namen des Jungen, hielt die Augen auf das Armaturenbrett geheftet.
    Das Tuscheln hielt an.
    Als Jenni den Kopf drehte, spürte sie einen stechenden Schmerz im Nacken. Die Muskeln wehrten sich gegen die Bewegung, denn der ganze Körper war nach vorn ausgerichtet, weg von der Insel, zum Festland.
    Miro hielt die Tasche auf dem Schoß. Er hatte sie geöffnet. Jennis Blick fiel auf gelbliches Knochengewebe.
    »Miro«, sagte sie noch einmal.
    Der Junge hatte sich über die Tasche gebeugt, so dicht,
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