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Schatteninsel

Schatteninsel

Titel: Schatteninsel
Autoren: Marko Hautala
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Rücklichter von Inas Wagen zwischen den Bäumen verschwinden.
    Die gutgläubige kleine Schwester. Miro hatte sein Asthma schon vor knapp zwei Jahren überwunden. Jenni nahm ihre Kleider von der Stuhllehne und zog sich an.
    Vorsichtig öffnete Jenni die Zimmertür und ging zum Treppenabsatz.
    Als Erstes hörte sie Miros Stimme.
    »Fass mich nicht an, verdammt!«
    Eine Frauenstimme murmelte eine Entschuldigung.
    Jenni erinnerte sich an die Begegnung bei den Steinhaufen am Ufer. Die Frau war alt, hatte aber gewirkt, als wäre sie bei Kräften. Sie war energisch ausgeschritten. Jenni hatte keine Chance gegen sie, nicht in ihrem derzeitigen Zustand. Die Frau würde sie daran hindern, das Haus zu verlassen, und vielleicht andere Inselbewohner herbeirufen.
    Jenni schloss die Augen und fluchte innerlich. Sie sah sich nach etwas um, womit sie die Frau in Schach halten konnte. Ihr Blick fiel auf die Tür zu Markus’ Zimmer. Vorsichtig spähte sie über das Geländer nach unten. Niemand war zu sehen, es waren auch keine Stimmen mehr zu hören. Sie öffnete die Tür und blickte ins Zimmer.
    Der türkisfarbene Teppich. Der Schreibtisch. Das Fenster. Dahinter die Landspitze und die Steinhaufen.
    Jenni ging hinein und zog die Tür hinter sich zu. Sie sah sich um, hob Papierstapel an und wühlte in den Schubladen. Nichts. Nur verworrene Aufzeichnungen, Fotos von seltsamen Festen, grotesken Masken und Prozessionen, bei denen Spiegel getragen wurden. Zwischen einem der Papierstapel blitzte ein Blatt hervor, das Jennis Aufmerksamkeit erregte.
    Sie zog es zwischen den handschriftlich beschriebenen Bögen heraus und hielt es sich vor die Augen.
    Es war eine ausgedruckte E-Mail. Der Text war nachträglich von Hand überschrieben worden, stellenweise mit solchem Druck, dass rund um die Buchstaben Grafit am Papier haften geblieben war.
    SO SPRICHT DIE STIMME DES WELTLICHEN WEISEN, DIE NOCH PRAHLT UND NICHT VERSTUMMT, EHE DIE FLAMMEN DER HÖLLE –
    Durch die mit Bleistift geschriebenen Worte hindurch war jedoch die ursprüngliche Mail zu lesen, die Markus derart in Wut versetzt hatte. Jenni überflog sie zunächst nur flüchtig, las sie dann von Anfang an.
    Sie las sie zweimal. Starrte dann aus dem Fenster. Die Regentropfen ließen die Umrisse verlaufen. Dennoch waren die Steinhaufen an der Landspitze zu erkennen. Jenni stützte sich auf den Schreibtisch und betrachtete den Papierbogen.
    Die Mail stammte aus der Zeit vor dem Unfall. Aus einer Zeit, als Markus etwa ein Jahr auf der Insel gelebt hatte.
    Es war Jenni klar, dass sie nicht viel Zeit hatte. Dass sie einen Weg finden musste, das Haus und die Insel zu verlassen, bevor Ina zurückkehrte. Dennoch las sie den Text noch einmal, bevor sie das Papier faltete und in die Tasche steckte.
    Als sie die letzte Schublade aufzog, befanden sich Jennis Gefühle in Aufruhr. Die Oberfläche der Papiere fühlte sich an wie Markus’ Haut. Sie rochen vertraut. Dieses Zimmer war Markus’ Leben, in Holz, Papier, Stifte und kleine Souvenirs verwandelt. Eine plötzliche Welle des Abscheus rollte über Jenni hinweg. Sie konnte die Sachen nicht mehr berühren.
    Als sie vom Schreibtisch zurücktrat, sah Jenni die Landschaft vor sich, von der Markus den Blick nicht hatte lösen können, die ihn weitaus stärker fasziniert hatte als Jenni. Hier sollte Gott wohnen? Ein strenger Gott, der unendlich viele Opfer forderte, aber nie sein Gesicht enthüllte. Aber vielleicht war sein Gesicht in dieser Landschaft, in den Findlingen, Uferfelsen, Bäumen, Wellen und dem leeren Himmel. Vielleicht hatte Markus es so empfunden. Jenni war schwindlig. Sie spürte eine unerklärliche Panik aufsteigen, fürchtete, dass sich auch ihr das Gesicht des strengen Gottes enthüllen, dass auch sie sehen würde, wie die Einzelheiten der Landschaft sich zusammenfügten, eine große unmenschliche Gestalt bildeten, die im Wind flatterte, in den Wellen brauste, zu sprechen versuchte. Jenni zwang sich, den Blick zu senken.
    Auf dem Fensterbrett lag ein Stein.
    Jenni starrte das ungleichmäßige graublaue Gebilde an. Die eine Seite war rund, passte in die Handfläche, schien für eine Menschenhand gemacht. Die andere Seite war kegelförmig, spitz. Hatte der strenge Gott den Stein dorthin gelegt? Ihn Jahrhunderte und Jahrtausende lang geformt, in ihre Reichweite gebracht?
    Jenni nahm den Stein in die Hand. Er war schwerer als er aussah. Der kalte Luftzug, der durch die Fensterritzen drang, hatte ihn ausgekühlt.
    Jenni versuchte, den Stein
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