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Schattenherz

Schattenherz

Titel: Schattenherz
Autoren: Ulrike Bliefert
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jeden Tag hatte sie sich in ihre Gartenecke verzogen und war so versunken in die Geschichte von Tyrion Lannister und seiner grausamen Schwester Cersei , dass sie sein Näherkommen gar nicht bemerkt hatte.
    Â»Hier«, sagte er und hielt ihr einen Apfel hin.
    Â»Danke«, sagte Malin, »ich heiße Malin.«
    Der junge Mann namens Anatol setzte sich in einigem Abstand von ihr auf die Colakisten-Bank. Schweigend verzehrten sie ihre Äpfel.
    Es war Samstag und außer ihnen beiden war niemand auf der Baustelle. Malin überlegte einen Moment lang, ob sie sich gestört fühlen sollte. Zwischen zwei Bissen musterte sie ihren Banknachbarn heimlich von der Seite. Wie viele Rothaarige hatte er einen ungewöhnlich hellen Teint und wie mit der Streubüchse verteilt ein paar Sommersprossen auf der Nase. Auf seiner Stirn begann sich die Haut zu schälen. Sonnenbrand , dachte Malin, kenn ich . Wenn sie im Sommer nicht aufpasste, sah sie in Null Komma nichts aus wie ein frisch gekochter Hummer. Nach dem nächsten Bissen wanderte ihr Blick zu seinen Händen. Sie waren übersät mit frischen und beinahe verheilten Kratzern.
    Â»Ich möchte die Erde spüren«, sagte Anatol, als habe er Malins unausgesprochene Frage gehört, »ich mag keine Schutzschicht zwischen mir und der Erde und den Pflanzen.«
    Â»Aha? Bist du irgendwie … Gartenarchitektur-Student oder so was? Gehörst du hier zum Haus?«
    Â»Weder noch.«
    Â»Sondern?«
    Keine Antwort.
    Â»Hallo?«
    Nichts.
    Als er gefühlte fünf Minuten später immer noch nicht auf ihre Frage reagiert hatte, konnte Malin nicht mehr an sich halten. »Hey, was wird das hier, hm? Danke für den Apfel, aber anschweigen kann ich mich auch selber! Also wenn da nichts weiter kommt, würde ich jetzt gern in Ruhe weiterlesen, okay?«
    Verwirrt hob Anatol den Kopf und schaute sie an. »Sorry«, murmelte er, »ich hab manchmal so …, so was wie ’n Filmriss. Liegt an den Medikamenten. Also: Was hast du gefragt?«
    Malin seufzte. Schade eigentlich , dachte sie, interessanter Typ, aber voll neben der Spur.
    Â»Na jaaa …« Sie druckste ein wenig herum. Scheinbar war dieser Anatol nicht gerade wild darauf, viel von sich zu erzählen. »… du kommst mir halt älter vor als achtzehn…«
    Â»Stimmt. Ich bin zwanzig.«
    Â»â€¦ und da hab ich mich gefragt, ob du vielleicht was mit der Gartenanlage hier zu tun hast. ’n Praktikum oder so was. Oder ob du vielleicht irgendwie sonst zum Haus gehörst.«
    Â»Nee. Oder doch! So gesehen gehör’ ich zum Haus.« Er lachte leise und warf den Apfelrest in Richtung Buchsbaumhecke. Sofort machte sich wild tschilpend eine Horde Spatzen darüber her.
    Pause. Wieder Schweigen.
    Malin seufzte innerlich, ließ sich jedoch nichts anmerken und knabberte stattdessen hingebungsvoll auch noch das letzte bisschen Fruchtfleisch vom Kerngehäuse ihres Apfels. Ich könnte ihn ja einfach fragen, wie er das meint. Aber wenn er’s mir erzählen will, wird er’s mir schon irgendwann sagen.
    Das Schweigen zog sich so sehr in die Länge, dass Malin regelrecht zusammenzuckte, als Anatol – scheinbar unvermittelt – wieder zu reden begann.
    Â»Ich bin seit sechs Jahren bei Dr. Spengler in Behandlung. Damals war er noch an der Uni-Klinik. Und nachdem er diesen Nobelschuppen hier aufgemacht hat, haben die mich beim letzten Mal gleich an ihn weitergeleitet.«
    Â»Beim letzten Mal von was?«
    Anatol kehrte wortlos die Innenseiten seiner Handgelenke nach oben. Die Spuren frisch verheilter Schnittwunden stachen hellrot zwischen einer Reihe bereits verblasster Narben hervor.
    Malin versuchte, sich nichts anmerken zu lassen.
    Â»Okay«, murmelte sie betroffen, »wie’s aussieht, scheint’s bei dir zu stimmen.«
    Â»Was?«
    Â»Das mit dem suizidgefährdet und so.«
    Â»Bei dir nicht?«
    Â»Nee, ich find leben super.«
    Â»Und wieso bist du dann hier?«
    Â»Die wollen mich umbringen. Deshalb!«
    Eine Woche später hatte sich Malin an Anatols merkwürdige Gesprächspausen gewöhnt. Sie erfuhr, dass er schon mit sechzehn von zu Hause ausgezogen war.
    Â»Wieso das denn?«, hatte sie gefragt.
    Er hatte die Achseln gezuckt und »Ich wollt in Ruhe mein Abi machen« geantwortet.
    Auf Malins nicht ganz ernst gemeinte Frage, ob er es zu Hause vielleicht mit drei bis fünf nervenden kleinen
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