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Schattenbruch

Schattenbruch

Titel: Schattenbruch
Autoren: Markolf Hoffmann
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Meer abfiel, desto dunkler und felsiger wurde der Grund. Die Schwärze des Sithalits färbte auf das Gemüt der Menschen ab, und so galten die Palidonier als finster und schweigsam. Vor allem den Einwohnern Nandars sagte man ein mürrisches Wesen nach, und zweifellos wurde in Nandars Straßen weniger gelacht und gesungen als andernorts im Kaiserreich. Die Stadt zerfiel in zwei Teile: das am Wasser gelegene Hafenviertel, Palideyra genannt, und die auf dem Felsrücken errichtete Hochstadt. Hier lebte ein Großteil der Einwohner; ihre Häuser drängten sich um die Fürstenburg Nirdun, einen grauen Steinbau, dessen Wehrturm wie eine gereckte Faust aufragte. Seine hellen Mauern hoben sich deutlich vom Untergrund ab; denn auch Nandars Straßen waren aus dem dunklen Felsen geschlagen und die meisten Gebäude aus Sithalit gebaut. Wenn die Sonne eine Lücke zwischen den Wolken fand und ihre Strahlen das Gestein trafen, glomm die Stadt wie ein Funkenmeer auf. Doch es war ein freudloser Glanz, der die Herzen nicht wärmte.
    Auch an diesem Tag schien über Nandar die Sonne, während das dritte Beben die Stadt erschütterte. Die Menschen, die von den Erdstößen aus den Häusern getrieben wurden, strömten durch die Gassen, verängstigt, verzweifelt. Ihr Geschrei mischte sich mit dem Grollen des Untergrundes. Sie drängten zur Burg hin; dort hofften sie auf Hilfe. Doch der vorgelagerte Platz war abgeriegelt. Ritter schirmten die Zugänge ab: schwere Rüstungen, dunkle Helme und Kriegskeulen … die Ritter der Schwarzen und der Weißen Klippen! Als die Kunde von Binhipars Ermordung umgegangen war, hatten sie ihre Stellungen an der Küste verlassen und sich nach Nandar zurückgezogen. Die Klippenritter hatten die kaisertreue Stadtgarde entwaffnet, und jene Bürger, die den Staatsstreich Ulimans beklatscht hatten, waren kurzerhand hingerichtet worden. Die Familie Nihirdi - bestehend aus Binhipars Gemahlin und seinem Sohn - dachte offenbar nicht daran, vor dem Kaiser das Haupt zu senken. Statt sich seiner Macht zu beugen, verbreiteten die Nihirdi in der Stadt das Gerücht, der Fürst sei noch am Leben, habe den Anschlag überlebt und werde bald nach Nandar zurückkehren, um Uliman den Kampf anzusagen. Viele Menschen glaubten dies, sehnten Binhipars starke Hand herbei; und wer daran zweifelte, fand sich in Ketten wieder.
    Unbarmherzig drängten die Klippenritter das Volk in die Gassen zurück. Bald staute sich die Menge; die Eingepferchten versuchten zur westlichen Straßenmündung zu gelangen und sich zum Stadttor durchzukämpfen. Doch ein neuer Stoß erschütterte das Erdreich; der Boden schwankte, schleuderte die Menschen umher wie Puppen. Ein ohrenbetäubendes Krachen: der Seitenflügel der alten Münzerei sackte in sich zusammen. In einer Wolke aus Staub begrub er Unzählige. Das Gedränge wurde endgültig zum Chaos, entmenschte Leiber, deren Beine und Füße, Arme und Fäuste vom Körper unabhängig zu werden schienen, die um sich traten und schlugen ohne Rücksicht auf Umher stehende; entmenschte Leiber, die sich an den Schultern der Aufrechtstehenden emporzogen und die Köpfe der Niedersinkenden hinabdrückten, um selbst nicht im Menschenmeer unterzu- gehen. Nur vereinzelt durchdrangen Stimmen den allgegenwärtigen Lärm. Ein junger Mann hatte sich auf den Fenstersims eines Hauses gerettet. Seine Stirn schmückte ein weißes Band, und seine Augen leuchteten, während er auf die Menschen einbrüllte.
    »Nhordukaels Zorn … spürt ihr ihn? Er schickt euch das Beben, er straft euch für die Weigerung, ihm zu folgen! Er herrscht über die Quelle des Brennenden Berges, er reinigte Thax mit Feuersglut und zeigte uns Tathrils Machtlosigkeit. Wir sind lange genug einem falschen Gott gefolgt! Nicht Tathril lenkt unser Schicksal! Nicht Tathril wird uns beschützen, sondern ein Mensch wie wir! Nhordukael ging für uns in die Sphäre, um uns zu retten. Betet nicht länger zu Tathril - fleht Nhordukael um Schutz an! Wer ihm folgt, wird überleben!« Manche hörten auf ihn, klammerten sich an diese letzte Hoffnung wie Ertrinkende und riefen lauthals den Namen des jungen Hohenpriesters: »NHORDUKAEL! NHORDUKAEL !« Doch während in den Augen des Weißstirns Zuversicht leuchtete, zeugten ihre Blicke nur von Verzweiflung.
    Die Erde beruhigte sich. Zurück blieb ein Knirschen; das Sithalit sammelte Kraft für den nächsten Angriff. Sofort kam Bewegung in die Menge; sie strömte auf die rettende Gasse zu, fort, fort von hier, fort zu den Toren,
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