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Schattenbruch

Schattenbruch

Titel: Schattenbruch
Autoren: Markolf Hoffmann
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der Nacht, verhaltenes Grollen aus dem Untergrund. Kinder fuhren aus dem Schlaf und riefen nach der Mutter. Hunde heulten auf, ließen sich weder durch Stiefeltritte noch durch Knüttelhiebe zur Ruhe bringen. In den Schenken sprangen Tonkelche vom Tisch und zerschellten auf dem Steinboden.
    Seit Jahrhunderten hatte es in Nandar kein Erdbeben mehr gegeben. Die Stadt wurde durch das Auge der Glut geschützt, die Quelle von Thax. Ihre Macht wirkte im ganzen Hochland, selbst hier in Nandar. Doch nun, da die Kirche sie an einen Abtrünnigen aus den eigenen Reihen verloren hatte - den Priester Nhordukael, der sich zum Nachfolger des verstorbenen Hohenpriesters erklärt und somit die Kirche gespalten hatte - , ging in Nandar Furcht um. Das Auge der Glut verhieß keinen Schutz mehr, sondern Vernichtung. Thax, die Hauptstadt des Kaiserreiches, war ihm bereits zum Opfer gefallen; Nhordukael hatte die Stadt mit den Flammen der Quelle versengt. Und obwohl seine Anhänger, die Weißstirne, inzwischen einen Waffenstillstand mit Kaiser und Thronrat geschlossen hatten, fürchteten Nandars Bewohner, es könnte ihnen bald ähnlich ergehen wie den Bürgern von Thax.
    Dreimal bebte die Erde in Nandar …
    Sechs Tage nach dem ersten Beben spürte Nandar die zweite Erschütterung; diese war stärker, bedrohlicher. Mächtige Stöße jagten durch Nandars Straßen, ließen den Putz von den Mauern bröckeln. Das Sithalit, es brüllte, erzitterte in seiner Schwärze und Bosheit. Die Menschen spürten die Gewalt des Felsens bis ins Mark; klammerten sich aneinander, lauschten dem Dröhnen aus der Tiefe.
    Dann aber setzte das Beben urplötzlich aus, als wäre der Felsen selbst erschrocken über seine Kraft. Voller Panik rannten die Menschen aus ihren Häusern, riefen nach Tathril, nach dem Kaiser, nach Gnade und Erbarmen. In einer Gasse entglitt einem Kind die Hand seines Vaters; es stürzte und fand den Tod unter den Stiefeln der Umherirrenden. Wieder tränkte Blut das Sithalit, sickerte hinab in die Tiefe; und das Gestein witterte den gehaßten Feind, der es so lange geknechtet hatte. Fleisch und Stein, ein ewiger Gegensatz: der Kampf zwischen Leben und Starrheit, er dauerte fort.
    Dreimal bebte die Erde in Nandar, und das dritte Beben versetzte der Stadt den Todesstoß. »Kommt, kommt herein«, rief der Schattenspieler und winkte die Männer und Frauen zu sich, die durch die offenstehende Tür in den Keller spähten. »Kommt und ergötzt euch an der Kunst der gewobenen Schatten, die euch das Schicksal Sithars verraten!« Kerzen flackerten in der Tiefe, warfen ihr Licht auf die Stufen einer verfallenen Treppe, die in das Gewölbe hinabführte. Ein paar Schemel und Bänke waren unten zu erkennen und ein weißes Leintuch, das vor den Sitzreihen aufgespannt war und sich im Luftzug des Kellers bauschte. »Kommt und staunt über die Welt der Schatten - die der Toten und der Todgeweihten. Hört die Geschichte der Fürsten Sithars, die in Vara ihr Ende fanden! Seht ihre sterbenden Hüllen, die im Schattenreich wandeln. Kommt, kommt zu mir …«
    Mißtrauisch spähten die Menschen in den Keller hinab. Niemand von ihnen hatte den Mann je gesehen, dessen Gesicht im Kerzenschein nur undeutlich zu erkennen war. Er war von drahtiger Gestalt, seine Hände dürr, das Haar zottig; die Kleider - ein zerschlissenes Lederwams und fleckige Hosen - wirkten armselig. Auch den Keller kannte niemand der Anwesenden; viele fragten sich, warum sie nie zuvor dieses uralte Gebäude bemerkt hatten, das im Südviertel Nandars aufragte und dessen Baustil eigentümlich wirkte und fremd. Doch ihre Neugier siegte. Einer nach dem anderen stieg die Treppe hinab und nahm vor dem gespannten Leintuch Platz. Kinder drängten sich an ihre Eltern, starrten mit großen Augen auf den Schattenspieler, der nun von seinem Publikum ein paar Kupfermünzen forderte. Mit geübten Fingern ergriff er die Münzen und ließ sie in seinen Hosentaschen verschwinden. Dabei ging ein Leuchten über sein längliches Gesicht. Er war jünger, als die meisten erwartet hatten, wohl dreißig Jahre alt; der Körper gelenkig, die Haut sonnengebräunt, doch der Blick unstet, von einem dauernden Blinzeln zerrissen, als wäre er ein Käuzchen, das im Dunkeln nach Beute linste. Ein strenger, doch nicht unangenehmer Geruch ging von seinen Kleidern aus, der Duft nach Harz und Kiefernadeln. Seinen dürren Hals verdeckte ein Seidentuch; das einzige Kleidungsstück, welches halbwegs sauber schien. Mit gewichtiger Miene
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