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Schattenbruch

Schattenbruch

Titel: Schattenbruch
Autoren: Markolf Hoffmann
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Umhertaumeln, die dünnen Arme fuhren zu den Kehlen, als rangen die Fürsten nach Luft. Dort ging einer von ihnen zu Boden, streckte flehend die Hand empor, bis alles Leben aus ihm wich. Auch die übrigen Fürsten sanken nieder, einer nach dem anderen. Nur der Kaiser, Uliman Thayrin, saß weiterhin auf seinem Thron; er schien zu lachen, schwenkte die Arme und pries unsichtbare Mächte.
    Angewidert betrachteten die Menschen das Schauspiel auf der Leinwand, das eine Spur zu echt war. Sie alle kannten die Gerüchte der letzten Wochen: daß die Fürsten in Vara ermordet worden seien, vermutlich von des Kaisers Hand, und Uliman nun als alleiniger Herrscher in Vara regiere. Auch Binhipar Nihirdi, der Fürst von Palidon und Schutzherr von Nandar, sollte dem Mord zum Opfer gefallen sein. Doch es gab auch andere Berichte; manche hielten das Ende des Silbernen Kreises für eine Lüge, oder sie sahen nicht Uliman hinter dem Mord, sondern Nhordukael. Dann wieder hieß es, einer der Fürsten habe den Thronrat dahingemeuchelt: Baniter Geneder, Fürst von Ganata. Nur Binhipar sei dem Anschlag entronnen. Letztlich wußte niemand Genaues, und die Familie Nihirdi widersprach allen Gerüchten um Binhipars Tod, ohne einen Gegenbeweis zu erbringen. »Seht, wie sie fallen«, wiederholte der Schattenspieler, während sich ein düsteres Blau über die Leinwand legte. »Der Silberne Kreis ist zersprungen. Ein wahnsinniges Kind herrscht über Sithar, und keiner kann das Reich vor dem Untergang bewahren.«
    Die Schattenfigur des Kaisers hatte sich vom Thron erhoben. Er wandte den Kopf der Leinwand zu, als wollte er durch sie auf das Publikum blicken. Für einen Moment schien es, als wandle der Schatten nicht hinter dem Tuch, sondern davor, als habe er das Tuch durchdrungen. Das blaue Licht umspielte Ulimans Konturen wie Flammen, und die Stäbe, die seine Arme hielten, verblaßten. In diesem Augenblick bebte die Erde unter Nandar ein drittes Mal, sechs Tage nach der letzten Erschütterung. Die Mauern des Gewölbes begannen zu zittern; uralter Mörtel knirschte zwischen den Steinen, Staub rieselte von der Decke auf das Publikum herab. Aus der Erde drang ein Stöhnen, als erwache das Gestein aus langem Schlaf. Dann jagte ein erster Stoß durch die Stadt, ein Fausthieb aus der Tiefe, und die Schemel und Bänke im Gewölbe flogen umher wie Spielzeug.
    Schreiend rappelten sich die Menschen auf, rafften ihre Kleider zusammen, stürmten zur Treppe, die unter dem Nachbeben des Erdstoßes schwankte. Kinder klammerten sich an ihren Eltern fest, Frauen an ihren Männern, und im Pulk drückten sie sich die Treppe hinauf, glitten auf den Stufen aus, zogen sich an den Rockschößen der Vorauseilenden voran.
    »Wartet!« Der Schattenspieler war hinter der Leinwand hervorgetreten, in den Händen die winzigen Figuren, deren Arme nun leblos herabhingen. »Bleibt stehen, ihr Narren! Draußen erwartet euch der Tod. Hier unten seid ihr sicher, hier im Verlies!«
    Sie hörten nicht auf ihn. Ihr einziger Wunsch war es, nach draußen zu gelangen, dem Gewölbe zu entkommen und den Himmel zu erblicken, einmal noch, ein letztes Mal. Schon hatten die ersten die Straße erreicht. Keiner von ihnen half den Nachstürmenden. Doch auch diese gelangten endlich ins Freie. Als ein zweiter Stoß Nandar erzittern ließ, waren die letzten dem Keller entflohen.
    Der Schattenspieler stand allein vor der Leinwand. Seine Augen blinzelten, während er die Kupfermünzen hervorholte, den Lohn für sein Schauspiel. Achtlos ließ er sie zu Boden fallen.
    »Blind seid ihr«, murmelte er. »Ihr lauft den Trugbildern nach, die man euch vorgaukelt. Wer soll euch schützen, wenn selbst die Schöpfer der Sphäre Gharax längst aufgegeben haben?«
    Er tastete nach dem Tuch, das seinen Hals bedeckte, und sein Gesicht verzerrte sich, als litte er Schmerzen. Hinter ihm erlosch das blaue Licht seiner Laterne. Das Gewölbe versank im Dunkeln, während ein dritter Erdstoß Nandar in Trümmer schlug.
    Palidon, der Nordosten des Hochlandes, galt seit jeher als ein Gebiet, das seine menschlichen Bewohner nur duldete, nicht aber liebte. Von schroffer Schönheit waren die Hügel und Täler: das Splittergebirge mit seinen scharfkantigen Felsnasen; die gefährliche Seenlandschaft von Jocasta, aus der selten ein Reisender zurückkehrte; die Meeresküste, über die Suuls Hauch streifte, jener von Osten her wehende eisige Wind. Das Sithalit aber war der stumme Wächter Palidons; je weiter das Land gen Osten zum
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