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Schalom

Titel: Schalom
Autoren: Carl Hanser Verlag
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zurückhalten und fügte hinzu: »Es ist das erste Mal, dass du anrufst.«
    Hoffentlich war nichts mit den Kindern. Sie hatte sie zwar noch nie gesehen, noch nicht einmal auf Fotos, aber sie hoffte, sie eines Tages kennenzulernen, und machte sich Sorgen um sie.
    »Mutter, ich rufe nicht an, um mit dir zu diskutieren. Du weißt genau, dass wir nicht einer Meinung sind, und dieser Disput ist nicht neu.«
    Welcher Disput? Er hatte sie nicht nach ihrer Meinung gefragt. Er hatte sich für diese Frau entschieden und war ihr hinterhergefahren, nach Deutschland. Er hatte nicht einmal versucht zuzuhören, was ihm Menachem zu sagen hatte. In der Trauerwoche 3 für Menachem, als sie den Versuch unternommen hatte, mit ihm darüber zu reden, hatte er nur gesagt, dies sei keine Zeit für Diskussionen. Außerdem sei es sein Leben und er habe nicht die Absicht, irgendjemanden zu fragen, wie er es gestalten soll, »auch nicht die geliebteste Mutter der Welt«. Diese Worte würde sie nie vergessen. Nach diesen Worten hatte er sie heftig umarmt, und sie hatte Herzschläge gespürt und nicht gewusst, ob es seine oder ihre waren.
    »Mutter, ich rufe an, um dir etwas Wichtiges mitzuteilen.«
    »Wichtig? Schon gut, ich höre, mein Schatz.« Sie sprach schnell, damit er zum Zug kommen konnte.
    »Gil hat sich entschieden, ein Jahr in Israel zu leben.«
    Gil, das war der Große! Und was bedeutete das, ein Jahr in Israel zu leben? Wo in Israel? Bei ihr?
    »Mutter?«
    »Ja, ja, ich bin einfach … Das heißt, ich freue mich sehr, aber ich bin überrascht. Wann kommt er?«
    Jaki konnte ihr noch keine Details geben. Sein Sohn hatte sich für seinen Zivildienst ein Jahr in einem Altersheim in Tel Aviv ausgesucht. Sie begriff nicht, was Zivildienst hieß. Er war doch nie hier, warum musste er dann hier Zivildienst leisten? Aber sie wollte nicht zu viele Fragen stellen. Er war schon achtzehn, dieser kleine Enkel, und er war ein Goj. Jetzt würde sie ihn endlich mal sehen.
    Es war ja nicht so, dass Avris Söhne sie besuchten oder wenigstens mal anriefen, aber immerhin sah sie sie, wenn sie an Pessach 4 zu ihnen fuhr, und sie schickte ihnen Geschenke zum Geburtstag. Wenn sie sie besuchte, nannten sie sie Großmutter. Aber was war mit dem da? Wie sollte sie sich mit ihm unterhalten? Er war doch noch nie hier gewesen, vielleicht sprach er kein Hebräisch? Jaki hatte mal geschrieben, dass seine Kinder Hebräisch verstanden, aber nicht, dass sie auch Hebräisch sprachen.
    Als das Gespräch mit Jaki zu Ende war, legte sie nicht den Hörer auf, sondern drückte sofort auf die automatische Wähltaste, die Avri für sie eingerichtet hatte. Jetzt würde sie nicht mehr auf seinen Anruf warten, sie musste ihm von diesem Gespräch mit Jaki berichten. Wem sollte sie davon erzählen, wenn nicht Avri? Das Rufzeichen ertönte immer wieder, aber niemand nahm ab.
    »Du hast angerufen und ich war nicht zu Hause, na und?«, würde Avri sagen.
    Aber sie konnte das schlimme Gefühl nicht aushalten, das sich in ihr ausbreitete, wenn niemand auf das Rufzeichen reagierte. Das konnte sie Avri nicht erklären. Auch dieses Mal stieg das Gefühl in ihr auf und wurde mit jedem Klingelton schlimmer. Es war wie eine Drohung – als würde niemand mehr antworten, auch Avri nicht.
    Dabei hätte sie es im Voraus wissen können, wer sollte ihr denn antworten? Es war schon spät, bestimmt waren sie längst zur Arbeit gegangen. Natürlich könnte sie Avri auf dem Taschentelefon anrufen, das er immer zur Arbeit mitnahm, aber das tat sie nie. Was wäre, wenn es mitten in einer seiner Besprechungen klingelte? Sollten alle erfahren, dass seine Mutter ihm etwas mitzuteilen hatte?
    Was sollte sie tun? Zila anrufen? Nein! Sie hatte definitiv keine Lust, ihrer Schwester davon zu erzählen. Sie würde sich sofort einmischen, Jaki vielleicht Vorwürfe machen. Gott im Himmel, er hätte sie all die Jahre einfach anrufen können, genauso wie Avri, und hatte sich mit Briefen begnügt.
    Sie legte den Hörer auf und ging zu der halb geschälten Gurke zurück, die in der Küche auf sie wartete.
    Sie konnte nicht mehr hoffen, dass irgendjemand für sie die Schälarbeit erledigte, wie Menachem es getan hatte. Das war eines der ersten Dinge, an die sie sich nach Menachems Tod hatte gewöhnen müssen. Alles, was sie irgendwo in der Wohnung hatte liegen lassen, blieb liegen, bis sie es wieder brauchte. Menachem hatte es nicht leiden können, wenn »mitten in der Wohnung etwas herumlag«, wie er es nannte. Er
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