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Schalom

Titel: Schalom
Autoren: Carl Hanser Verlag
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ihn, wenn er am Leben geblieben wäre, das Alter milde gestimmt und er hätte sich nicht geweigert, seinen Enkel zu treffen. Aber er hatte diese Welt verlassen, bevor sein Zorn abgekühlt war, und sie konnte mit seinem Zorn nichts anfangen.
    Sie sank in den Fernsehsessel, den Avri ihr gekauft hatte, schaltete den Fernseher an, obwohl sie um diese Zeit nicht gern fernschaute, und warf einen Blick zum Telefon, das Avri für sie neben dem Sessel installiert hatte.
    »Nun«, sagte sie leise, »vielleicht rufst du endlich mal an.«

2
    Was, zum Teufel, war da los? Avri fuhr ein kleines Stück auf die Gegenfahrbahn, um den Grund für den Stau herauszufinden, aber es war vergeblich. Der Stau war zu lang, er konnte nur die Rückseiten einiger Autos sehen. Gerade heute hatte er gehofft, früh nach Hause zu kommen, um vor dem Termin, der für den Abend eingeplant war, noch einige Arbeiten zu erledigen, aber das würde wohl nicht mehr klappen.
    Er konnte sich nicht erinnern, ob er Vicky von dem Treffen erzählt hatte, deshalb rief er zu Hause an, aber sie war anscheinend ebenfalls noch nicht von der Arbeit zurück. Er versuchte, sie über Handy zu erreichen, wusste aber, dass die Chancen gering waren. Sie schaltete es immer nur ein, wenn sie telefonieren wollte, und selbst wenn sie es zufällig anließ, hatte sie es so tief in ihrer Tasche vergraben, dass sie das Klingeln nicht hörte.
    Macht schon! Nichts ging vorwärts. Er hoffte, dass es sich nur um Probleme an einer Straßensperre handelte, konnte aber nicht ausschließen, dass etwas Außergewöhnliches passiert war, ein Unfall oder sogar ein Terrorakt.
    Er schaltete das Radio an und suchte den Sender des Roten Meeres , obwohl er ihn eigentlich nicht gern hörte, aber das war der einzige Sender, der aus der Region berichtete.
    Die Hecklichter der Autos vor ihm gingen ständig an und aus, ein Zeichen für die Nervosität der Fahrer. Er überlegte, ob der Fahrer hinter ihm wohl dasselbe über seine Bremslichter dachte. Wieder versuchte er, Vicky zu erreichen, legte aber sofort auf, als ihre Stimme auf dem Anrufbeantworter sagte: »Sie haben die Nummer von Vicky Silber gewählt …«
    Oh, jetzt bewegte sich etwas. Er fuhr langsam an, kam aber nicht weiter als zwanzig oder dreißig Meter, denn da bremsten die Autos vor ihm schon wieder. Ihm fiel auf, dass auf der Gegenfahrbahn keiner fuhr. Das war ein schlechtes Zeichen.
    Plötzlich fiel ihm ein, dass er seine Mutter heute nicht angerufen hatte. Warum vergaß er das immer? Bestimmt tappte sie schon den ganzen Tag um das Telefon herum. Schnell wählte er ihre Nummer und wartete. Bis sie es hört und zum Telefon geht, dachte er, da braucht man viel Geduld.
    Außer von ihm wurde sie von fast niemandem angerufen. Wenn wenigstens Jaki sich beteiligt hätte. Es war doch sehr ärgerlich, dass alles auf seinen Schultern lag, und die Entfernung war auch nicht besonders hilfreich. Wieder überkam ihn das seltsame Gefühl wie damals, als er sie zu überreden versucht hatte, nach Eilat zu ziehen. Ihm war schnell klar geworden, dass das sinnlos war, und er schämte sich dafür, dass er überhaupt auf diese Idee gekommen war. Zu Hause in Haifa wusste sie genau, was wo war und an wen sie sich wenden konnte. Was würde sie in Eilat machen? Hier wäre sie von ihm und Vicky abhängig. Er hatte die Idee, sie zum Umzug zu überreden, aufgegeben, weil er begriff, dass für ihn ein Ortswechsel leichter wäre als für sie und dass er von ihr nicht verlangen konnte, was er selbst zu tun nicht bereit war. Er und Vicky wollten Eilat auf keinen Fall verlassen, obwohl sie auch in Haifa irgendwie zurechtkommen würden, wenn sie es gewollt hätten.
    Er hatte vorgehabt, seine Mutter diese Woche zu besuchen, nach einem Termin in Tel Aviv, aber der Termin war verschoben worden und er hatte ihr noch nicht einmal Bescheid gesagt.
    Wieder setzten sich die Autos in Bewegung und bei ihr hörte das Telefon nicht auf zu klingeln. Warum hob sie nicht ab? Er wollte schon auflegen, als er plötzlich ihre Stimme aus der Freisprechanlage hörte.
    »Hallo«, sagte sie. Sie hörte sich heiser an.
    »Schalom, Mutter«, sagte er schnell.
    »Ist das Avri?«, fragte sie.
    »Wer sonst? Gibt es hier noch jemanden, der dich Mutter nennt?«
    »Wer?«, fragte sie, und er wusste, dass sie seinen Scherz nicht verstanden hatte.
    »Ja, Mutter, Avri ist am Telefon.«
    Schnell, als hätte sie Angst, es zu vergessen, oder als könnte die Leitung zusammenbrechen, sagte sie: »Avri, weißt
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