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Schalom

Titel: Schalom
Autoren: Carl Hanser Verlag
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breiter geworden und ließ ihn etwas gelassener aussehen. Als sie die Wohnung in der Kaulbachstraße erreichten und Gil trafen, schaute Avri den jungen Mann an, den er seit einigen Jahren nicht mehr gesehen hatte, und sagte zu Jaki: »Ich kann mich an dich erinnern, als du so alt warst wie Gil.« Und nach einer kurzen Pause fügte er hinzu: »Das kann man nicht vergessen.« Er vermied es ausdrücklich, die Bar Mizwa 6 zu erwähnen.
    Jaki warf ihm von der Seite einen Blick zu, und Avri spürte, dass sein Bruder genau wusste, was er gemeint hatte, trotzdem sagte er nichts. Auch Anna ahnte, dass es hier um etwas Unausgesprochenes ging, sie schaute erst den einen, dann den anderen an und bat schließlich Vicky, ihr beim Kaffeekochen zu helfen. Avri überlegte, ob sie vielleicht dachte, dass es Dinge gab, die man nicht in ihrer Gegenwart besprechen könne. Später hörte er von Vicky, dass es gerade umgekehrt gewesen war: Anna wollte Vicky etwas fragen, was sie in der Gegenwart der beiden Männer nicht hatte fragen wollen. Sie bat um Rat wegen Gils Bar Mizwa. Sie wusste nicht, ob diese Feier für Jaki überhaupt wichtig war. Jaki hatte das Thema bisher mit keinem Wort erwähnt, und gerade deshalb scheute sie sich, mit ihm darüber zu sprechen.
    Avri erinnerte sich nur zu gut an die Diskussionen mit seinem Vater, als seine Eltern ihn dazu zwangen, beim Rabbiner 7 Vorbereitungsstunden für seine Bar Mizwa zu nehmen. Er war jedes Mal fast geplatzt vor Wut, wenn er vom Haus des Rabbiners zurückkam. Dort war kein Fenster offen. Die Luft war stickig, es hatte ihn geekelt zu atmen, weil er wusste, er atmete etwas, was entweder dieser stinkende Mann in dem fleckigen Unterhemd mindestens einmal ausgeatmet hatte oder diese dicke Frau, die immer ein eng gebundenes Kopftuch trug und deren Schweißgeruch ihm jedes Mal entgegenschlug, wenn sie ihm die Tür öffnete. Aber diese Wut hatte ihm nichts genützt. Auch nicht die kleine Rache, als er absichtlich, während er den Thoraabschnitt 8 in der Synagoge vor dem Publikum las, eine Pause machte und den Rabbi und seinen Vater dazu zwang, ihm schnell zu zeigen, an welcher Stelle er weiterlesen sollte. Alles wurde ihm verziehen, als hätte es sich nur um einen Kinderstreich gehandelt.
    Als Jaki dann so weit war und seine Bar Mizwa bevorstand, hatte er schon Erfahrung. Er wusste, dass er seinem Vater gegenüber keinen Widerstand leisten sollte, und tat alles, was dieser wollte, ohne Diskussionen, aber er kam regelmäßig zu spät zum Unterricht und gewann durch jede Verspätung mindestens eine Viertelstunde. Er tat alles, um seinen Aufenthalt in jenem verhassten Haus zu verkürzen. Der Rabbiner hatte sowieso nicht die Absicht, ihn in die Feinheiten der Bibel einzuführen, er wollte ihm nur beibringen, wie er die Segenssprüche und seinen Thoraabschnitt zu lesen hatte. Das lernte er schnell, als wäre es ein Musikstück, und so konnte er es sich erlauben, den Unterricht zu schwänzen, ohne Angst haben zu müssen.
    Als sie damals in München im Englischen Garten waren, gingen Jaki und Vicky am See entlang und Avri und Anna folgten ihnen. Er betrachtete die Enten, die nach dem Brot schnappten, das ihnen Kinder zuwarfen. Es war seltsam, diese Sprache, die er sonst nur von Erwachsenen und alten Leuten kannte, hier mit den dünnen Stimmen von Kindern und Kleinkindern zu hören. Als er Anna anschaute, erinnerte er sich an ihr Zögern wegen der Bar Mizwa. Er legte eine Hand auf ihre Schulter, zog sie zu sich heran und sagte: »Du kannst mit ihm ganz offen über die Bar Mizwa reden, er wird seinen Söhnen nicht antun wollen, was man uns angetan hat.«
    Anna fragte ihn nach Jakis Zeremonie, aber von dessen Fest in der Synagoge hatte Avri nur noch die Erdnüsse und die Bonbons in Erinnerung, die die Gäste auf Jaki warfen, nachdem er den Thoraabschnitt zu Ende gelesen hatte. Er erinnerte sich an das Fest abends, in einem Festsaal in der Balfourstraße in Haifa, und dass er, Avri, sich wie der Gastgeber gefühlt hatte, während Jaki, der eigentliche Held der Feier, nach dem Vorlesen der Rede, die ihm der Rabbiner geschrieben hatte, sich von allen küssen ließ und dann ganz einfach verschwand, um an einer Versammlung von Haschomer Hazair 9 im Jugendzentrum teilzunehmen, doch außer Avri war das niemandem aufgefallen. Na gut, der Vater hatte sich ein- oder zweimal nach ihm erkundigt, suchte ihn aber nicht wirklich, Avris ausweichende Antworten genügten ihm, und als die Party dem Ende zuging, kam Jaki
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