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Schalom

Titel: Schalom
Autoren: Carl Hanser Verlag
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eine starke Frau. Vielleicht konnte der Junge eine Brücke bauen. Die Mutter wurde nicht jünger, und wenn es nicht jetzt geschah, könnte es zu spät sein. Er wusste, dass Jaki sehr viel daran lag, die Verbindung mit seiner Mutter wiederherzustellen, auch wenn er es nicht wagte, den ersten Schritt zu tun.
     
    Vicky stand am Eingang und sagte: »Oh, ich wollte dich gerade anrufen. Deine Mutter hat schon zweimal angerufen, nachdem wir miteinander gesprochen haben.«
    Sie würde nicht auf dem Handy anrufen, nicht mal dann, wenn ihr Blutdruck verrücktspielt, dachte Avri. Er bat Vicky um ein kaltes Getränk und erzählte ihr von dem Termin, den er am Abend noch hatte, während er ihre Nummer wählte.
    Als die Mutter seine Stimme erkannte, schrie sie: »Ich möchte nicht, dass er zu mir kommt!«
    Avri zuckte zusammen, und Vicky schaute ihn fragend an, als sie ihm das Glas gab, das von dem kalten Getränk angelaufen war. Er wusste nicht, was er sagen sollte, und trank schnell.
    »Avri, hörst du?«
    »Ich höre, Mutter.«
    »Sag Jaki, dass ich den Jungen nicht bei mir haben will.«
    »Mutter«, sagte Avri ruhig und überlegte fieberhaft, was er sagen könnte. Sie gab ihm nicht viel Zeit zum Überlegen.
    »Sag nicht Mutter zu mir«, sagte sie, den ruhigen Ton seiner Stimme nachahmend. »Du sagst ihm jetzt, dass der Junge nicht zu mir kommen soll!«
    Aus Zorn darüber, dass sie ihm diese Aufgabe aufbürdete, hätte er sie fast gefragt, warum sie es Jaki nicht selbst sagte. Aber er kannte die Antwort und wusste auch, dass seine kleinen Ausbrüche nicht das waren, was ihr jetzt gerade fehlte, deshalb schwieg er.
    »Avri, hast du mich verstanden?«, fragte sie aufgeregt.
    »Ja, Mutter, ich habe es verstanden. In Ordnung, ich sage es ihm.«
    »Wie wirst du ihm das sagen?«
    »Was soll das heißen, wie? Na, wie er es dir gesagt hat: am Telefon.«
    Sie begriff wohl noch immer nicht, dass Jaki am Telefon verfügbar war, wenn man mit ihm sprechen wollte.
    Avri versprach ihr, dass er Jaki genau das übermitteln würde, was sie ihm gesagt hatte, und obwohl er versuchte, sie zu beruhigen, merkte er sehr wohl, dass es ihm nicht gelungen war.
    Vicky stand neben ihm und schaute ihn fragend an. Als er ihr erzählt hatte, wie panisch seine Mutter sich angehört hatte, sagte sie: »Du musst zu ihr fahren.«

3
    Menachem wusste immer, was zu tun war, aber er war gegangen. Avri hatte zwar versprochen, dass er es Jaki sagen wird, aber er verstand nichts. Wie hätte er es auch verstehen sollen? Niemand konnte es verstehen, nur Menachem ist dort gewesen. Und die da war dort. Und als Menachem ihr geholfen hat aufzustehen und die modrig riechenden Waldblätter aus ihrem Gesicht wischte, sah sie überall erschossene Menschen. Menachem flehte sie an, nicht hinzuschauen. »Du sollst dich nicht ewig an sie erinnern müssen!«, hatte er gesagt. Aber sie hatte hingeschaut. Er hatte gehofft, sie würde den Anblick aus ihrem Gedächtnis vertreiben können. Was hätte sie dafür nicht alles gegeben, aber sie wird es wahrscheinlich nie schaffen.
    Manchmal vergehen viele Tage, ohne dass sie sich daran erinnert, aber dann ist es doch wieder so weit, dass sie es vor sich sieht, als träfe sie wieder dieser Schlag und würde sie während der Flucht zu Boden werfen.
    Und jetzt soll dieser »Deutsche« zu ihr kommen? Er ist doch wie ein Sohn von denen da. Es stimmt zwar nicht ganz: Er ist doch auch Jakis Sohn, aber seine Mutter ist eine von denen, und wer weiß, ob er nicht ein Nachkomme von denen ist? Menachem hat zwar mal gesagt, sie waren Dörfler von hier, keine Deutschen, aber für sie waren sie alle verfluchte Deutsche.
    Nechama machte das Fernsehen an, um diese Gedanken zu vertreiben. Menachem sagte, wenn diese Gedanken kommen, muss man schnell irgendetwas unternehmen. »Es spielt keine Rolle, was. Hauptsache, etwas tun.«
    Menachem hatte natürlich recht, und sie wusste, wenn sie ihm gehorchte, würde sie standhalten. Ein Spruch von ihm war: »Wer sich selbst auffrisst, wird nie satt.«
    Und da saß sie nun vor dem Fernseher, und statt hinzuschauen, dachte sie an Menachem und was er gesagt hätte.
    Sie sollte eine Ballettsendung suchen. Auf allen Sendern gab es nur Talkshows, die sie nicht ablenkten. Auch wenn sie verstand, was gesprochen wurde, interessierte es sie nicht wirklich, und ihre Gedanken fingen an zu wandern. Sie zappte, bis sie aufgab, das Gerät ausschaltete und sich noch ein Glas Tee kochte. Sie hatte heute Abend schon so viel Tee
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