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Schalom

Titel: Schalom
Autoren: Carl Hanser Verlag
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Er hatte vermutlich recht, aber sie gab trotzdem etwas. Sie sollten das Geld nehmen, verschwinden und sie in Ruhe lassen. Und sie nahmen es tatsächlich und verschwanden.
    Sie war gerade in die Küche zurückgekehrt, als sie schon wieder durch ein Klingeln aufgeschreckt wurde. Ohne nachzudenken, ging sie zur Tür – vielleicht war es endlich der Techniker –, doch da klingelte es wieder, und sie merkte, dass es das Telefon war.
    Gut so, dachte sie, bestimmt ist es Avri, und sie beeilte sich, den Hörer abzuheben.
    »Guten Morgen!«, sagte sie.
    »Guten Morgen, Mutter, wie gut, deine Stimme zu hören.«
    Ihr fiel sofort auf, dass seine Stimme seltsam klang, sie konnte es aber nicht einordnen.
    »Ich hoffe, ich habe nicht zu früh angerufen. Wie spät ist es bei euch?«
    Was sollte das heißen, bei euch? War es in Eilat etwa jetzt nicht auch Morgen? Warum sprach er so mit ihr? Das passte nicht zu Avri. Diese Frage und seine seltsame Stimme erschreckten sie, sie wusste nicht, was sie sagen sollte.
    »Mutter?«, sagte er, als sie keine Antwort gab.
    »Ja?«, sagte sie.
    »Ist bei dir alles in Ordnung?«
    »Bei mir? Ja, bei mir ist alles in Ordnung.«
    »Mutter, wie geht es dir?«
    »Ich habe dir doch gesagt, dass bei mir alles in Ordnung ist.«
    »Mutter, weißt du, mit wem du sprichst?«
    Was glaubte er denn, sie hatte schließlich erst vor zwei Tagen mit ihm über die Bank gesprochen, und er hatte versprochen vorbeizukommen, und nun dachte er, sie würde seine Stimme nicht erkennen?
    »Glaubst du etwa, ich würde deine Stimme nicht erkennen? Wie viele Mütter hast du?«
    »Man hat nur eine Mutter, natürlich. Aber du klingst so … wie soll ich das sagen … Vielleicht freust du dich ja gar nicht, mich zu hören, bist du sicher, dass alles in Ordnung ist, Mutter?«
    »Und für mich bist du es, der etwas seltsam klingt.«
    »Na ja, es ist lange her, dass du meine Stimme gehört hast.«
    Was zum Teufel war hier los? Obwohl die Stimme wie Avris Stimme klang, war es nicht seine Stimme! Irgendjemand versuchte, sich als Avri auszugeben. Das machte ihr langsam Sorgen, und sie hatte nicht die Absicht, sich anschwindeln zu lassen.
    »Wie viel Zeit glaubst du denn, dass vergangen ist?«, fragte sie.
    »Mutter, bist du sicher, dass du weißt, mit wem du sprichst?«
    In diesem Moment erkannte sie, dass es Jakis Stimme war, nicht Avris. Was tat er plötzlich hier in Israel? Noch dazu, ohne sie vorher zu informieren. Sie begriff, dass sie ihm schnell mitteilen musste, dass sie ihn erkannt hatte.
    »Was soll das heißen, wer spricht? Jaki, oder?«, sagte sie und wunderte sich, wie schnell sie reagiert hatte, um die Schande zu vermeiden.
    Die Schande einer Mutter, die die Stimme ihres Sohnes nicht erkennt. »Wann bist du angekommen, Jaki?«
    »Ich bin nicht in Israel, Mutter.«
    Sie war aufgebracht: »Von wo sprichst du?«
    »Was heißt, von wo? Von zu Hause.«
    »Aber wieso von zu Hause?«, sagte sie erstaunt.
    Zu Jaki passte es, in solchen Dingen seinen Spaß mit ihr zu treiben, damit konnte er sogar sein Verschwinden ins Lächerliche ziehen.
    »Mutter, ich rufe dich von München aus an, aus meiner Wohnung.«
    »Aber habt ihr denn ein Telefon zu Hause?«
    »Klar, was sonst? Wir leben im einundzwanzigsten Jahrhundert …«
    Er hörte sich so nah an, sie konnte gar nicht glauben, dass er aus dem Ausland anrief. Sie hörte seine Stimme, begriff aber kaum, was er sagte. Plötzlich wurde ihr klar, dass Jaki in all den Jahren mit ihr hätte telefonieren können, es aber nicht getan hatte.
    Warum? Warum hatte er es vorgezogen, ihr Briefe zu schicken, statt mit ihr zu telefonieren, so wie Avri? War das alles wegen der da und wegen des Streits mit Menachem? Und was war passiert, dass er plötzlich doch anrief?
    »Was ist passiert, Jaki?«, rief sie.
    Vielleicht war ja was mit seiner Goja passiert. Für Nechama wäre das kein großes Unglück, aber für Jaki … Er liebte sie sehr, und obwohl er dort ein wichtiger Direktor geworden war und weder von ihr noch von jemand anderem abhängig war, spürte Nechama genau, dass sein ganzes Leben dort mit ihr verbunden war.
    »Es ist nichts passiert, Mutter«, antwortete Jakis Stimme. »Muss etwas passieren, damit ich meine Mutter anrufe?«
    Sie wollte nichts Böses sagen. Es war das erste Mal, dass er sie anrief, und sie wollte auf keinen Fall, dass es auch das letzte Mal sein würde.
    »Nun, es ist schon eine Überraschung«, sagte sie, »du rufst nicht jeden Tag an.« Sie konnte sich nicht
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