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Savoir-vivre mit Hindernissen

Savoir-vivre mit Hindernissen

Titel: Savoir-vivre mit Hindernissen
Autoren: Frieda Lamberti
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rief sofort den Notarzt, obwohl ich wusste, dass es zu spät ist. Wir haben gewusst, dass unsere Zeit begrenzt ist. Aber dass es so schnell gehen wird, damit habe ich nicht gerechnet. Die Ärzte versprachen uns mindestens noch sechs Monate, mit ganz viel Glück ein ganzes Jahr, wenn sie bereit gewesen wäre, sich einer weiteren Chemotherapie zu unterziehen. Aber das hat sie strikt abgelehnt und nun ist das eingetreten, was sie immer befürchtet hat. Abzugehen, ohne vorher Tschüss sagen zu können.«
   »Aber die OP war doch erfolgreich. Es sah doch alles so vielversprechend aus.«
   »Als die Ärzte uns sagten, dass der Tumor in rasender Geschwindigkeit nachwächst, hat sie hat den Kopf in den Sand gesteckt.«

Martin schläft schon. Unseren Hochzeitstag  und die Hochzeitsnacht hat er sich sicherlich anders vorgestellt. Es liegt ein Fluch auf mir. Warum passieren die schlimmsten Katastrophen immer dann, wenn ich mein Glück mit anderen feiern will. Seit einer Stunde starre ich auf den Umschlag. Bisher fand ich nicht den Mut, Anjas Karte zu lesen. Ich koche mir eine Kanne Yogi Tee und warte darauf, dass er mir die Ruhe und Gelassenheit schenkt, wie es auf der Packung vollmundig angepriesen wird. Vorsichtig stecke ich den Brieföffner unter die Lasche. Ich ziehe keine Glückwunschkarte, sondern einen Brief und ein Foto heraus. Das Bild zeigt Anja und mich lachend vor unseren beiden Doppelhaushälften. Ich habe rund zehn Kilo mehr an Gewicht drauf und vermute, dass die Aufnahme mindestens zwölf Jahre alt ist. Wir beide strotzen voller Tatendrang. Das Bild aus unseren glücklichen Zeiten sorgt für einen dicken Kloß in meinem Hals. Meine Nase macht dicht und meine Augen füllen sich mit Wasser, das wie ein Sturzbach an meinen Wangen herunterläuft. Ich entfalte den handgeschriebenen Brief und meine herabfallenden Tränen verwischen die ersten Buchstaben aus blauer Tinte.

Meine alte, meine liebste, meine engste und allerbeste Freundin,
jetzt weißt Du es. Endlich ist es raus. Vermutlich hast Du es von Martin oder seiner Mutter erfahren. Ich hatte nicht den Mut, es Dir zu beichten. Aber wem sage ich das. Du kennst mich. Ich bin zwar vorlaut und frech und dennoch bin ich der größte Hasenfuss unter der Sonne, wenn es darum geht, einen selbst verbockten Fehler einzugestehen. Das, was ich Dir angetan habe, war der größte, den ich mir je geleistet habe. Seit unserem Gespräch am Strand, als Du mir sagtest, dass meine Erkrankung kein Freifahrtsschein ist, weiß ich, dass du mir niemals vergeben wirst. Du brichst mit mir und ich kann Dich sogar verstehen. Ich bitte Dich nur um eins. Vergiss unsere guten Zeiten nicht! Ein schönes Leben brauche ich Dir nicht zu wünschen. Das wirst Du Glücksschwein mit absoluter Sicherheit haben. Aber trotz Martin an Deiner Seite und Deiner drei Jungs im Rücken wird Dir vielleicht irgendwann einmal eine gute Freundin fehlen. Eine, wie ich es Dir bis zu meiner unverzeihlichen Verfehlung war. Ich wünsche Dir von ganzem Herzen, dass du eine Vertraute, Kameradin, Gefährtin und Verbündete findest, die Dich niemals so enttäuscht, wie ich es tat.
Anja

»Ach Anja............«

Ein rabenschwarzer Tag
    Männer kommen und gehen, die beste Freundin bleibt für immer. Das war unser Slogan. Aber Anja hat sich verdrückt, obwohl ich noch ein Hühnchen mit ihr zu rupfen hatte. Ohne Abschied, ohne Aussprache, ohne Verzeihen und ohne Aussöhnung ist sie aus meinem Leben verschwunden. Sie ist in dem Bewusstsein abgetreten, ich hätte mit ihr gebrochen. Und das bringt mich fast um den Verstand. Gerald hat mich gebeten, einige Worte auf der Trauerfeier zu sprechen. »Wer sonst? Keiner kannte sie besser als du. Niemandem stand sie so nah wie dir.« Wie konnte ich ihm seine Bitte da noch abschlagen.

Nun stehe ich hier. Umgeben von unzähligen Blumengestecken und brennenden Kerzen. Mein Mund ist trocken und ich habe Angst, keinen Ton herauszubringen. Ich schaue in die verheulten Augen von Anjas Mädchen und ihrem Ehemann, die in der ersten Reihe der kleinen Kapelle sitzen und auf meine Worte warten. Martin nickt mir aufmunternd zu. Er meint, die Rede, die ich auf ein Blatt Papier gedruckt habe, ist gut formuliert und diesem traurigen Anlass würdig. Ich blicke noch einmal in die vielen Gesichter der Menschen, die gekommen sind, um Abschied von ihr zu nehmen und lege meinen Zettel beiseite.

»Anja hasste Grabreden und geschönte Lobgesänge auf die Verstorbenen. Ich erinnere mich noch an
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