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Sauberer Abgang

Sauberer Abgang

Titel: Sauberer Abgang
Autoren: Anne Chaplet
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Schuß.
    Nachdem er eine Weile unschlüssig im Zimmer seines Vaters gestanden hatte, drehte er das Radio auf mit Karls Lieblingssender. Und ganz kurz dachte er daran, den Staubsauger aus der Abstellkammer zu holen und einzuschalten.
    Die Vernehmung in Jennys Wohnung war kurz gewesen, die Details könne man ja nachtragen. »Sie haben ein bißchen viel hinter sich, oder?« hatte die rothaarige Staatsanwältin gefragt und ihn so milde angelächelt, daß ihm fast wieder die Tränen gekommen wären.
    Laß das nicht zur Gewohnheit werden, Alter, dachte Will. Aber es stieg ihm schon wieder heiß die Kehle hoch.
    Es gab keine Zweifel am Tathergang: Leo hatte Jenny erschossen und dann sich selbst. Will sah sein Gesicht vor sich, das kaum noch erinnerte an den Mann, den sie geliebt hatten, damals, in diesen unvorstellbar fernen Zeiten, die ihm heute paradiesisch vorkamen. Nur im Paradies konnte man sich so weit von der Wirklichkeit entfernen, wie sie es damals getan hatten. Nur auf einer Insel herrschten andere Gesetze als im Rest der Welt.
    Und Leo, mit seiner von den Präraffaeliten geborgten Schönheit, war der Inselkönig gewesen. Der Traumprinz. Und für einen winzigen Augenblick hatte sein Gesicht daran erinnert – als er lächelte, bevor er sich den Lauf der Pistole in den Mund steckte und abdrückte.
    Er hat gelächelt, dachte Will. Er hat mich angelächelt. Der kühle Lufthauch, der durchs Zimmer wehte, machte ihm eine Gänsehaut.
    Er ging durch die Wohnung und dachte an Schränke, die er nicht ausräumen und Vermächtnisse, von denen er nichts wissen wollte. Er würde die Wohnung vollständig renovieren müssen, damit ihn nichts mehr erinnerte an Marga und Karl Bastian. Aber auch das hielt er eigentlich für unmöglich. Solange er vom Balkon aus auf Maintower und Commerzbank gucken konnte, würde er an ihn denken, an Karl Bastian, der sie gebaut hat, diese Stadt.
    Als man aus dem Krankenhaus anrief, war er fast erleichtert. Sein Vater mußte abgeholt und beerdigt werden. Und nicht nur sein Vater: Wenn die Polizei mit Leo und Jenny fertig war, würden Michel und er auch diese beiden zu Grabe tragen.
    Wer, wenn nicht wir, dachte er. Den nächsten Wein trinken wir nicht im »Dionysos«, sondern auf dem Hauptfriedhof. Da liegt sie, die Freundschaft von fünfundzwanzig Jahren. Endlich wieder ein Pentakel – fünf Männer und eine Frau. Im Tode vereint. Wie passend.
    Nach drei Stunden hatte er das Allernötigste veranlaßt. Nach fünf Stunden hatte er die zweite Flasche Rotwein intus und keine Zigaretten mehr. Als er gegen Mitternacht aufwachte, saß er noch immer auf dem Balkon, ein halbvolles Glas in der Hand, im Blick die beiden Feen, um deren rotweiße Zauberstäbe sich Wolkenfetzen gewickelt hatten.
    Und plötzlich sah er etwas, das Leo sich vorgestellt haben mochte, damals, als er ihnen das erste Mal von seinem Projekt erzählte, vom Großen Plan, vom Signal, dem Zeichen, das er setzen wollte gegen alle Übel der Welt, gegen Gewalt und Ideologien, gegen Dummheit und Arroganz.
    Er sah auf dem Maintower unterhalb der weißroten Antennenstange zwei Gestalten auftauchen, die erst nebeneinander standen und sich dann langsam voneinander entfernten. Zwischen ihnen flatterte etwas, etwas weißes. Je weiter die beiden Gestalten voneinander weggingen, desto klarer erkannte man, daß sie eine Art Transparent entfalteten, auf dem in roter Schrift etwas stand.
    Und dann erhob sich ein weißer Lichtkegel über den beiden Gestalten und dem Transparent. Der nächste Schuß aus der Signalpistole setzte dem weißen ein rotes Licht auf.
    Jetzt stand das Transparent und man konnte die Worte darauf lesen.
    »Haltet die Welt an.«
    Leos Zauberspruch. Ein Zauberspruch gegen den Wahnsinn der Welt und gegen die Dummheit der Menschen.
     
    Will legte den Kopf in den Nacken und schloß die Augen. Was für eine wunderbare, schöne, absurde, kindische Idee. Hätten sie es doch bei der Idee belassen. Sie hatte ja in jenem eisigkalten Winter längst ihre Funktion erfüllt. Leos Projekt hatte sie alle abgelenkt – von Trauer, von Sehnsucht, von unerfüllter Liebe. Es hatte ihnen Halt gegeben, wie es jede Idee, jede Aufgabe tut. Es hatte sie bewahrt vor dem anderen Kraftzentrum des verschwörerischen Zirkels – von seinem negativen Pol: vor Jenny.
    Das Projekt hatte sie alle in einer prekären Balance gehalten, hatte verhindert, daß der Zirkel zerbrach, der gewaltsam auseinanderzutreiben drohte, seit Jenny die Phantasie beschäftigte – aller,
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