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Saubere Verhältnisse

Saubere Verhältnisse

Titel: Saubere Verhältnisse
Autoren: Ma2
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»Hallo!«
    Jetzt klang es, als würde er rufen. Und doch irgendwie weit weg. Gleich würde es zu spät sein.
    »Ja«, antwortete sie. Ihre Stimme war ruhig und kühl, als wäre das Schweigen technisch bedingt gewesen. »Heute abend ist gut.«
    Dann gab der Mann ihr eine Wegbeschreibung, und sie hörte aufmerksam zu, als ob sie noch nie im Orchideenweg 9 gewesen wäre. Als sie aufgelegt hatte, schaute sie überrascht auf ihre Hand. Sie zitterte.
    Cilla schaute herein und fragte, ob sie mitkommen wolle, etwas zu Mittag essen. Als sie sich vor dem Lokal wieder trennten, machte Yvonne eine Runde durch die Stadt. Ihr war klargeworden, daß sie sich um einen Job als Putzfrau nicht in ihrem normalen Outfit bewerben konnte, bestehend aus schwarzem Anzug, weißer Bluse und hochhackigen italienischen Lederstiefeln.
    Sie ging in einen Secondhand-Laden und entschied sich für eine Hose aus Baumwolljersey, einen beigen Rollkragenpulli, der ein bißchen noppig und vielleicht auch nicht ganz sauber war. Aber er war dünn, wie eine zweite Haut und er war angenehm warm. Sie fühlte sich darin wie ein weiches, geschmeidiges Tier – ein Iltis oder ein Seehund.
    Dann wählte sie noch ein paar einfache flache Schuhe und eine Schultertasche aus Lederimitat aus. Jetzt fehlte nur noch ein Mantel.
    Als sie die Bügel mit muffig riechenden Steppjacken und Cordjacken mit Kunstpelz durchging, dachte sie, daß es wahnsinnig war. Total wahnsinnig. Aber sie mußte zugeben, daß sie schon lange keinen solchen Spaß mehr beim Kleiderkaufen gehabt hatte.
    Dann wurde sie fündig. Ein einfacher Popelinemantel mit Gürtel. Als sie ihn vom Bügel nahm, bemerkte sie den Markennamen auf einem Stoffschild im Kragen: »Nora Brick«. Nicht gerade eine bekannte Marke.
    Sie probierte den Mantel, zog den Gürtel zu und schlug den Kragen hoch. Sie liebte diesen Mantel sofort. Obwohl er nichts mit den Kleidungsstücken gemein hatte, die sie sonst kaufte, hatte sie merkwürdigerweise das Gefühl, daß dieser Mantel ihr schon immer gehört hatte. Er fühlte sich richtig an, genau wie der total unbekannte Markenname Nora Brick ihr irgendwie richtig und natürlich vorgekommen war.
    Mit den Secondhand-Kleidern in einer großen Plastiktüte kehrte Yvonne ins Büro zurück. Sie blieb, bis alle anderen gegangen waren. Dann zog sie ihre neuen, alten Kleider an.
    Sie kämmte ihre dicken, braunen Haare stramm nach hinten und band sie zu einem hohen Pferdeschwanz zusammen. Sie wusch die Schminke aus dem Gesicht und nahm ihren Schmuck ab: eine goldene Halskette, die kleinen weißen Perlen, die sie in den Ohren trug, und einen Designerring mit einem großen, ovalen Stein, der ihre schmalen Finger betonte. Sie behielt nur ihren Ehering an – ein protziges Teil, breit und dick wie ein Serviettenring. Es war der teuerste glatte Ring, den es im Juwelierladen gab, und Jörgen wollte ihn unbedingt kaufen. Er war vielleicht eine Kompensation für eine magere Ehe. Sie fand, der Ring sah zusammen mit den Secondhand-Kleidern völlig deplaziert aus, und sich diesen Ring an einer Hand mit einem Scheuerlumpen vorzustellen war geradezu absurd.
    Nach kurzem Zögern zog sie auch den Ehering aus, und als sie ihn in das Münzfach ihres Portemonnaies steckte, erinnerte sie sich plötzlich an eine weit zurückliegende Situation, als sie für eine Blinddarmoperation vorbereitet wurde. Unter der Aufsicht einer Krankenschwester hatte sie alles Persönliche ablegen müssen – Kleider, Schmuck, Haargummis, Schminke – und statt dessen ein weißes, im Rücken geknöpftes Baumwollhemd bekommen und ein Plastikarmband, das ihre Identität auf Namen und Personennummer reduzierte. Ein beängstigendes Gefühl von Tod, vermischt mit einem kribbelnden Gefühl von Wiedergeburt.
    Yvonne betrachtete sich im großen Spiegel der Garderobe. Sie sah anders aus. Sie hörte immer wieder, daß sie jünger aussah als einundvierzig. Aber jetzt sah sie wirklich aus wie einundvierzig, fast noch älter. Fünfundvierzig. Vielleicht sogar fünfzig. Weil sie ungeschminkt war.
    Yvonne erinnerte sich an ihre Teenagerzeit, als die Schminke auf so wundersame Weise ein kindliches Mädchengesicht in das einer erwachsenen Frau verwandeln konnte, und sie dachte über das Phänomen nach, daß Make-up einen erst älter macht und dann wieder jünger. Wo liegt der Wendepunkt? Bei fünfundzwanzig?
    Der Rollkragenpullover kratzte ein bißchen am Hals, und es war nicht zu leugnen, daß er schwach, aber deutlich nach der Haut eines anderen
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