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Sarrasine (German Edition)

Sarrasine (German Edition)

Titel: Sarrasine (German Edition)
Autoren: Honoré de Balzac
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ihre kleinen Geheimnisse sehr wohl verzeihen. Aber unglücklicherweise bot die rätselhafte Geschichte des Hauses Lauty, ähnlich den Romanen von Anna Radcliffe, der Neugier fortwährend neuen Stoff.
    Beobachter – solche Leute, die wissen wollen, in welchem Geschäft man seine Kandelaber kauft, oder die einen nach der Höhe des Mietpreises fragen, wenn die Wohnung ihnen gefällt – hatten von Zeit zu Zeit bei den Festen, Konzerten, Bällen, Gesellschaften, die die Gräfin gab, eine seltsame Persönlichkeit auftauchen sehen. Das erste Mal sah man den Mann bei einem Konzert, und die zauberhafte Stimme Marianinas schien ihn in den Saal gezogen zu haben.
    »Jetzt eben ist mir kalt geworden«, sagte eine Dame, die in der Nähe der Tür saß, zu ihrer Nachbarin.
    Der Unbekannte, der neben der Dame stand, entfernte sich. »Das ist sonderbar: jetzt ist mir heiß!« sagte die Dame, nachdem der Fremde gegangen war. »Sie halten mich vielleicht für närrisch, aber ich kann mir nicht helfen, ich muß glauben, daß mein Nachbar, der schwarz gekleidete Herr, der eben weggegangen ist, mich frieren gemacht hat.«
    Bald veranlaßte die Neigung, zu übertreiben, die man bei den Menschen der vornehmen Welt so häufig trifft, daß die komischsten Meinungen, die absonderlichsten Reden, die lächerlichsten Geschichten über die geheimnisvolle Persönlichkeit aufkamen und immer toller wurden. Er war nicht gerade ein Vampir, eine Gule, ein künstlicher Mensch, eine Art Faust oder Wilder Jäger, aber er hatte, wenn man den Leuten, die gruselige Geschichten liebten, glauben wollte, von all diesen Dämonen in Menschengestalt etwas. Hier und da trafen sich Deutsche, die diese erfinderischen Scherze der bösen Zungen in Paris für bare Münze nahmen. Der Fremde war ganz einfach ein alter Mann. Manche von den jungen Leuten, die es sich zur Gewohnheit gemacht haben, jeden Morgen mit einigen zierlichen Sätzen die Entscheidung über die Zukunft Europas zu treffen, wollten in dem Unbekannten einen großen Verbrecher und den Besitzer ungeheurer Reichtümer sehen. Romanschreiber erzählten das Leben des alten Mannes und gaben wahrhaft erstaunliche Einzelheiten über die Grausamkeiten zum besten, die er in der Zeit begangen haben sollte, als er im Dienste des Fürsten von Mysore stand.
    »Bah,« sagten sie und zuckten mitleidig mit ihren breiten Schultern, »der kleine alte Kerl ist ein Genueser Kopf!« »Und wäre es zuviel verlangt, Sie um die Freundlichkeit zu bitten, zu erklären, was Sie unter einem Genueser Kopf verstehen?« »Mein Bester, das ist einfach ein Mann, auf dessen Leben ungeheure Kapitalien begründet sind und von dessen Gesundheit jedenfalls die Einkünfte dieser Familie abhängen. Ich erinnere mich, bei Frau d'Espard einen Magnetiseur gehört zu haben, der mit sehr bestechenden Gründen bewies, daß dieser Alte, wenn man ihn bei Lichte besieht, der berühmte Balsamo ist, der sich Cagliostro nannte. Nach der Aussage dieses modernen Alchimisten wäre der sizilianische Abenteurer dem Tode entronnen und vergnügte sich damit, für seine Enkelkinder Gold zu machen. Der Amtmann von Ferette aber behauptete, er hätte in dem seltsamen Wesen den Grafen von Saint-Germain erkannt.«
    Diese Albernheiten, die mit dem witzigen Ton und den spöttischen Mienen vorgebracht wurden, die heutzutage für unsere Gesellschaft, der es an Glauben fehlt, charakteristisch sind, hielten das Haus Lauty in einem unbestimmten Verdacht. Schließlich rechtfertigten die Glieder dieser Familie durch ein seltsames Zusammentreffen von Umständen die Vermutungen der Gesellschaft, indem sie ein recht sonderbares Verhalten gegen den alten Mann zeigten, dessen Leben sich allen Nachforschungen zu entziehen schien.
    Wenn der Mann die Schwelle des Zimmers überschritt, das er, wie man annahm, im Hause Lauty bewohnte, erregte sein Erscheinen immer eine große Aufregung in der Familie. Es machte den Eindruck eines wichtigen Ereignisses. Filippo, Marianina, Frau von Lauty und ein alter Diener hatten allein den Vorzug, dem Unbekannten beim Gehen, beim Aufstehen, beim Hinsetzen helfen zu dürfen. Jeder achtete auf seine kleinsten Bewegungen. Er schien ein verzaubertes Wesen zu sein, von dem das Glück, das Leben und das Vermögen aller abhing. War es Furcht oder Zärtlichkeit? Die Gesellschaft konnte kein Anzeichen herausfinden, das ihr geholfen hätte, diese Frage zu lösen. Dieser Hausgeist schien ganze Monate hindurch in einem verborgenen Allerheiligsten versteckt zu sein,
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