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Sarrasine (German Edition)

Sarrasine (German Edition)

Titel: Sarrasine (German Edition)
Autoren: Honoré de Balzac
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auf dieses Fest, dessen Brausen vielleicht zu seinen Ohren gedrungen war. Seine fast nachtwandlerische Benommenheit war so inständig den Dingen zugewandt, daß er mitten unter den Menschen stand, ohne die Menschen zu sehen. Ohne viel Federlesens war er neben einer der entzückendsten Frauen von Paris aufgetaucht, einer eleganten jungen Dame von überaus zarten Formen und einem Gesicht, das so frisch und rosig wie das eines Kindes und so durchsichtig war, daß der Blick eines Mannes hindurchzugehen schien, wie die Sonnenstrahlen durch blankes Glas. Und so standen die beiden nun vereinigt und so dicht beisammen vor mir, daß der Unbekannte das wallende Gazekleid, die Blumengewinde und das leicht gekrauste Haar streifte.
    Ich hatte die junge Dame zu Frau von Lauty auf den Ball geführt. Da sie zum ersten Mal in dieses Haus gekommen war, verzieh ich ihr das unterdrückte Lachen; aber ich gab ihr schnell ein so lebhaftes und eindringliches Zeichen, daß sie ganz verdutzt wurde und Respekt vor ihrem Nachbarn bekam. Sie setzte sich neben mich. Der Alte wollte das entzückende Geschöpf nicht verlassen; er hängte sich vielmehr mit der stummen Hartnäckigkeit, die, ohne daß man ihren Grund kennt, unverkennbar ist und die man bei überalten Menschen, die dadurch wieder den Kindern gleich werden, oft findet, an sie an. Um sich neben sie setzen zu können, mußte er einen Klappsessel heranziehen. All seine Bewegungen zeigten die kalte Schwerfälligkeit, die stumpfe Unentschlossenheit, die für das Wesen der Paralytiker kennzeichnend sind. Er setzte sich langsam und vorsichtig auf seinen Stuhl und murmelte dabei ein paar Worte, die man nicht verstehen konnte. Seine gebrochene Stimme erinnerte an das Geräusch eines Steines, der in einen Brunnen fällt. Die junge Dame drückte heftig meine Hand, wie wenn sie sich vor einem Abgrund retten wollte, und ein Schauder überlief sie, als der Mann, auf den sie gerade blickte, sie mit zwei Augen, denen jede Wärme fehlte, mit erloschenen meergrünen Augen ansah, die man nur stumpfer Perlmutter vergleichen konnte.
    »Ich fürchte mich!« flüsterte sie mir ins Ohr. »Sie können laut reden,« erwiderte ich, »er ist sehr schwerhörig.« »Sie kennen ihn also?« »Ja.«
    Sie fand jetzt so viel Mut, diese Gestalt, für die die menschliche Sprache keinen Namen hat, diese stofflose Form, dieses leblose Wesen oder passive Leben einen Augenblick zu betrachten. Sie stand unter dem Banne jener ängstlichen Neugier, die die Frauen dazu bringt, sich gefährliche Erregungen zu verschaffen, gefesselte Tiger anzusehen und auf Schlangen zu starren und dabei die Furcht zu empfinden, nur durch ein schwaches Gitter von ihnen getrennt zu sein. Der Rücken des kleinen Alten war gekrümmt wie der eines Tagelöhners; aber man sah doch noch, daß er ursprünglich gerade gewachsen war.
    Seine außergewöhnliche Magerkeit und seine dünnen Glieder zeigten, daß er immer schlank gebaut gewesen war. Er hatte Kniehosen aus schwarzer Seide an, die faltig, wie ein Segel ohne Wind, um seine dürren Beine hingen. Ein Anatom hätte schnell die Zeichen einer schrecklichen Auszehrung erkannt, wenn er diese schwachen Beine gesehen hätte, die den seltsamen Körper tragen sollten. Es sah aus wie zwei Knochen, die wie ein altes Kreuz auf einem Grab standen. Ein gräßliches Gefühl für die Hinfälligkeit des Menschen ergriff einem das Herz, wenn man bei näherem Zusehen bemerkte, wie verfallen vor Alter diese gebrechliche Maschine geworden war. Der Unbekannte trug eine weiße, goldgestickte Weste, wie sie ehedem Mode war, und seine Wäsche war blendend weiß. Ein rotgelbes Spitzenjabot, das so prächtig war, daß es den Neid einer Königin erregen konnte, zierte seine Brust: aber auf ihm wirkte diese Spitze eher wie ein Lappen als wie ein Schmuck. Auf diesem Busenstreifen funkelte ein Diamant von unschätzbarem Wert. Dieser vorsintflutliche Luxus, dieser äußerliche und abgeschmackte Pomp machten das Gesicht der grotesken Gestalt nur noch auffallender. Der Rahmen paßte zu dem Bildnis. Dieses schwarze Gesicht war in allen Richtungen ausgehöhlt und winklig. Das Kinn war hohl, die Schläfen waren hohl, die Augen schlotterten in vergilbten Höhlen. Die Kinnbacken sprangen infolge der unbeschreiblichen Magerkeit scharf hervor, über ihnen aber waren Löcher in jeder Backe. So waren in dem Gesicht Berge und Schluchten, und je nachdem das Licht darauffiel, entstanden seltsame Schatten und Reflexe, die ihm noch vollends das
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