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Sarrasine (German Edition)

Sarrasine (German Edition)

Titel: Sarrasine (German Edition)
Autoren: Honoré de Balzac
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meine Gnädigste, die Sie außer sich sind, Sie, die Sie die unmerklichsten Regungen so gut verstehen und im Herzen eines Mannes das zarteste Gefühl zum Wachsen bringen, ohne ihn zu beugen, ohne ihn vom ersten Tag an zu zerbrechen, Sie, die Sie sich der Herzensqualen erbarmen und mit dem Geist einer Pariserin das glühende Herz einer Italienerin oder Spanierin verbinden...«
    Sie mußte merken, daß meine Rede voll herber Ironie war; sie tat aber, als hörte sie es nicht, und unterbrach mich mit den Worten: »O, Sie machen mich so, wie Sie mich haben möchten. Seltsame Tyrannei! Sie wollen, ich soll nicht ich sein.« »O, ich will nichts!« rief ich. Ihre Strenge erschreckte mich. »Ist es wenigstens wahr, daß Sie gern der Geschichte der wilden Leidenschaften zuhören, die in unsern Herzen von den entzückenden Frauen des Südens erzeugt werden?« »Ja. Und...?« »Nun, dann will ich morgen abend gegen neun Uhr zu Ihnen kommen und Ihnen dieses Geheimnis enthüllen.« »Nein,« versetzte sie mit einer Miene, die entzückend eigensinnig war, »ich will es sofort erfahren!« »Sie haben mir noch nicht das Recht gegeben, zu gehorchen, wenn Sie sagen: Ich will.« »Jetzt«, erwiderte sie mit einer Koketterie, die einen zur Verzweiflung treiben konnte, »habe ich das heftigste Verlangen, dieses Geheimnis zu erfahren. Morgen werde ich Ihnen vielleicht kaum zuhören...«
    Sie lächelte, und wir trennten uns; sie so stolz, so abweisend wie immer, und ich genau so lächerlich wie immer. Sie hatte die Kühnheit, mit einem jungen Adjutanten einen Walzer zu tanzen, und ich war abwechselnd wütend, melancholisch, hingerissen, verlangend und eifersüchtig.
    »Auf morgen!« rief sie mir zu, als sie gegen zwei Uhr morgens den Ball verließ.
    ›Ich werde nicht hingehen,‹ dachte ich, ›und ich gebe dich auf. Du bist vielleicht noch tausendmal launischer und wetterwendischer... als meine Phantasie.‹
    Am nächsten Tage saßen wir zwei vor einem guten Feuer in einem eleganten kleinen Salon. Sie saß auf einem Sofa und ich, fast zu ihren Füßen, auf Kissen und sah zu ihr auf. Auf der Straße war alles ruhig. Die Lampe verbreitete ein mildes Licht. Es war ein Abend, wie sie der Seele so köstlich sind, einer der Augenblicke, die man nie wieder vergißt, eine der Stunden voller Frieden und Verlangen, nach deren Zauber man sich später, selbst wenn es einem viel besser geht, immer zurücksehnt. Wer kann die lebhaften Eindrücke der ersten Regungen der Liebe aus seinem Gedächtnis tilgen?
    »Fangen Sie an,« sagte sie, »ich höre!« »Ich wage nicht recht zu beginnen. Das Abenteuer hat Abschnitte, die für den Erzähler gewagt sind. Wenn ich begeistert werde, werden Sie mich schweigen heißen.« »Sprechen Sie!« »Ich gehorche.«
    »Ernest Jean Sarrasine war der einzige Sohn eines Sachwalters in der Franche-Comté«, fing ich nach einer Pause an. »Sein Vater hatte es schlecht und recht zu sechs- bis achttausend Livres Rente gebracht, was ehemals in der Provinz als Vermögen eines Anwalts für ganz riesig galt. Der alte Herr Sarrasine, der nur das eine Kind hatte, wollte es für seine Erziehung an nichts fehlen lassen: er hatte die Hoffnung, einen Beamten aus ihm zu machen und lange genug zu leben, um zu sehen, wie der Enkel des Mathieu Sarrasine, der ein Ackersmann in der Gegend von Saint-Dié gewesen war, sich auf die Lilienstühle setzte und zum Ruhme des Parlamentshofes in der Sitzung schlief. Aber der Himmel bereitete dem biederen Sachwalter diese Freude nicht. Der junge Sarrasine, der frühzeitig den Jesuiten zur Erziehung anvertraut worden war, bekundete ein Wesen von außergewöhnlicher Heftigkeit. Er hatte die Kindheit eines genialen Menschen. Er wollte nur studieren, wenn er Lust dazu hatte, war oft widerspenstig und blieb manchmal lange Stunden in wirre Träume versunken; bald beschäftigte er sich damit, seinen Kameraden beim Spiele zuzusehen, bald vergegenwärtigte er sich die Helden Homers. Fiel es ihm dann wieder ein, sich zu zerstreuen, so gab er sich den Spielen mit ungewöhnlicher Leidenschaft hin. Wenn zwischen einem Kameraden und ihm ein Streit entstand, ging der Kampf selten ohne Blutvergießen aus. Wenn er der Schwächere war, biß er zu. Er war hintereinander zugreifend und passiv, täppisch oder zu klug, und sein seltsamer Charakter machte ihn bei seinen Lehrern ebenso gefürchtet wie bei seinen Kameraden. Anstatt die Elemente der griechischen Sprache zu lernen, zeichnete er den ehrwürdigen Pater, der ihnen
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