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Sarrasine (German Edition)

Sarrasine (German Edition)

Titel: Sarrasine (German Edition)
Autoren: Honoré de Balzac
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zum Entzücken aller Männer und Schönheiten zur Befriedigung jedes Kritikers. Sarrasine verschlang die Statue Pygmalions, die für ihn von ihrem Sockel gestiegen war, mit den Augen. Als die Zambinella sang, entstand ein Rasen der Begeisterung. Den Künstler überlief es kalt; dann spürte er, wie ein Feuer in seinem Innersten, an der Stelle auflohte, die wir das Herz nennen, weil uns das Wort fehlt. Er klatschte nicht Beifall, er sagte nichts, er fühlte, wie ihn ein Wahnsinn, eine Art Raserei überfiel, die es nur in diesem Alter gibt, wo die Begierde etwas Schreckliches und Höllisches an sich hat. Sarrasine wollte auf die Bühne stürzen und sich dieses Weibes bemächtigen. Seine Kraft, die durch eine moralische Depression, die man nicht erklären kann, weil sich diese Vorgänge in einer Region abspielen, die unserer Beobachtung unzugänglich ist, verhundertfacht wurde, wollte mit schmerzhafter Gewalt sich Luft machen. Er saß wie erstarrt und betäubt da. Ruhm, Kunst, Zukunft, Leben, Sieg, alles war wie zerstoben.
    ›Von ihr geliebt werden oder sterben!‹ – das war das Urteil, das Sarrasine über sich selbst sprach.
    Er war so völlig im Taumel, daß er den Saal, die Zuschauer, die Schauspieler nicht mehr sah und die Musik nicht mehr hörte. Noch mehr: es gab keinen Zwischenraum mehr zwischen ihm und der Zambinella, er besaß sie; seine Augen, die sie nicht losließen, hatten sich ihrer bemächtigt. Eine fast teuflische Macht brachte ihn dahin, daß er den Atem dieser Stimme einsog, daß er den duftenden Puder, der auf ihrem Haar lag, mit jedem Atemzug sich zu eigen machte, daß er die sanfte Rundung dieses Gesichtes wie greifbar vor sich sah und die blauen Adern darauf zählen konnte, die sich von der samtenen Haut abhoben. Diese Stimme endlich, die so geläufig, so frisch und so silbern war, die biegsam war wie ein Faden, dem der leiseste Hauch eine Form gibt, die er auf- und abrollt, entfaltet und wieder zerteilt, diese Stimme drang ihm so stark in die Seele, daß er mehr als einmal unwillkürliche Schreie ausstieß, wie sie einem die krampfhaften Entzückungen entreißen, die die menschlichen Leidenschaften so selten gewähren. Bald mußte er das Theater verlassen. Seine zitternden Beine trugen ihn fast nicht mehr. Er war zerschlagen und ermattet wie ein Jähzorniger nach einem furchtbaren Wutanfall. Er hatte so viel Wonne erlebt, oder vielleicht hatte er so viel gelitten, daß sein Leben ausgelaufen war, wie das Wasser aus einem Gefäß, das durch einen Stoß umgestürzt wurde. Er spürte eine Leere, eine Vernichtung in sich, die den Schwächezuständen glich, die die Genesenden, wenn sie eine schwere Krankheit überstanden haben, zur Verzweiflung bringen. Eine unerklärliche Trauer überfiel ihn, und in einem ohnmächtigen Zustand setzte er sich auf die Stufen einer Kirche. Er lehnte den Rücken an eine Säule und gab sich wirren Träumen hin. Die Leidenschaft hatte ihn wie ein Blitzschlag getroffen. Als er in sein Quartier zurückgekehrt war, überfiel ihn ein Paroxysmus der Schaffenswut, wie er in solchen Momenten kommt und uns die Gegenwart neuer Elemente in unserem Leben enthüllt. Er war von jenem ersten Liebesfieber befallen, das man ebensowohl Lust wie Qual nennen kann, und wollte, um seine Ungeduld und seinen Taumel zu überwinden, die Zambinella aus dem Gedächtnis zeichnen. Das war eine Art materielles Träumen. Auf dem einen Blatt stand die Zambinella in der anscheinend ruhigen und kühlen Haltung, wie sie Raffael, Giorgione und alle großen Meister geliebt haben. Auf einem anderen wandte sie den Kopf reizend zur Seite, als wollte sie einer Koloratur zuhören, die sie eben sang. Sarrasine zeichnete das geliebte Weib in allen Stellungen; er nahm ihr den Schleier, ließ sie sitzen, stehen, liegen; er zeichnete sie züchtig oder wollüstig und verwirklichte mit seinem Stift, der schon beinahe raste, all die Launen, die unsere Phantasie herausfordern, wenn wir sehr an eine Geliebte denken. Aber sein wütendes Denken ging weiter als die Zeichnung. Er sah die Zambinella, sprach mit ihr, flehte sie an, brachte tausend Jahre Leben und Glück mit ihr zu, indem er sie in alle Situationen brachte, die seine Begier ersinnen konnte, indem er sozusagen die Zukunft mit ihr auskostete. Am nächsten Tage ließ er von seinem Lakaien für die ganze Saison eine Loge dicht bei der Bühne mieten. Dann stellte er sich, wie alle jungen Leute, in deren Seele es gewaltig zugeht, die Schwierigkeiten seines
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