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Sara

Sara

Titel: Sara
Autoren: Stephen King
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war es brütend heiß, die Sonne gleißte von einem dunstigen weißen Himmel und ergoß sich über alles wie geschmolzenes Messing. Sie standen vor unserem Haus - das mittlerweile allein mein Haus geworden war -, während drei Taxis am Bordstein warteten, machten einen Riesenaufstand, umarmten einander in dem Durcheinander von Reisetaschen und verabschiedeten sich mit diesem nuscheligen Massachusettsakzent.
    Frank blieb noch einen Tag. Wir pflückten einen großen Blumenstrauß hinter dem Haus - nicht diese gräßlich riechenden Treibhausblumen, deren Duft ich stets mit Tod und Orgelmusik in Verbindung bringe, sondern richtige Blumen, wie Jo sie am liebsten mochte - und steckten sie in Kaffeedosen, die ich in der Vorratskammer fand. Wir fuhren zum Friedhof und
stellten sie auf das frische Grab. Dann saßen wir eine Zeitlang unter der sengenden Sonne.
    »Sie war immer das Allersüßeste in meinem Leben«, sagte Frank schließlich mit erstickter Stimme. »Als Kinder haben wir uns um Jo gekümmert. Wir Jungs. Niemand hat Jo verarscht, das kann ich dir sagen. Wenn es jemand versucht hat, haben wir ihm die Meinung gegeigt.«
    »Sie hat mir eine Menge Geschichten erzählt.«
    »Gute?«
    »Ja, echt gute.«
    »Ich werde sie schrecklich vermissen.«
    »Ich auch«, sagte ich. »Frank … hör mal … ich weiß, du warst ihr Lieblingsbruder. Sie hat dich nicht angerufen, um dir vielleicht zu sagen, daß ihre Periode ausgeblieben ist oder sie sich morgens elend fühlt? Du kannst es mir sagen. Ich bin nicht sauer.«
    »Aber das hat sie nicht. Großes Ehrenwort. War ihr denn morgens elend?«
    »Falls ja, hab ’ ich nichts davon gemerkt.« Und so war es. Ich hatte absolut nichts bemerkt. Natürlich hatte ich geschrieben, und wenn ich schreibe, bin ich wie in Trance. Aber sie wußte, wohin ich in diesem Zustand ging. Sie hätte mich finden und wachrütteln können. Warum hatte sie das nicht getan? Warum sollte sie mir die gute Nachricht vorenthalten? Daß sie es mir erst sagen wollte, wenn sie ganz sicher war, klang plausibel … aber irgendwie paßte es nicht zu Jo.
    »War es ein Junge oder ein Mädchen?« fragte er.
    »Ein Mädchen.«
    Wir hatten während unserer gesamten Ehe Namen ausgesucht und parat. Ein Junge hätte Andrew geheißen. Unsere Tochter wäre Kia gewesen. Kia Jane Noonan.
     
    Frank, seit sechs Jahren geschieden und alleinstehend, war bei mir geblieben. Auf dem Rückweg zum Haus sagte er: »Ich mache mir Sorgen um dich, Mikey. Du hast nicht viel Familie, auf die du in einer Zeit wie dieser zurückgreifen kannst, und was du hast, ist weit weg.«
    »Ich komme zurecht«, sagte ich.

    Er nickte. »Sagen wir jedenfalls, wenn wir gefragt werden, richtig?«
    »Wir?«
    »Wir Männer. ›Ich komme zurecht.‹ Und wenn nicht, achten wir darauf, daß es niemand merkt.« Er sah mich mit nach wie vor tränenden Augen an und hielt sein Taschentuch in einer großen, sonnenverbrannten Hand. »Wenn du nicht zurechtkommst, Mikey, und du deinen Bruder nicht anrufen willst - mir ist nicht entgangen, wie du ihn angesehen hast -, laß mich dein Bruder sein. Jos wegen, wenn schon nicht deinetwegen.«
    »Okay«, sagte ich, respektierte das Angebot und wußte es zu schätzen, obwohl ich genau wußte, daß ich nichts dergleichen tun würde. Ich rufe nicht andere Leute zu Hilfe. Das liegt nicht daran, wie ich erzogen wurde, wenigstens glaube ich es nicht; ich bin einfach nicht dazu geschaffen. Johanna hat mal gesagt, wenn ich dabei wäre, im Dark Score Lake, wo wir unser Sommerhaus haben, zu ertrinken, würde ich lieber fünfzehn Meter vom öffentlichen Strand entfernt lautlos sterben, als um Hilfe zu rufen. Das ist keine Frage von Liebe oder Zuneigung. Die kann ich geben und empfangen. Ich empfinde Schmerz wie jeder andere auch. Ich habe das Bedürfnis, andere zu berühren und von ihnen berührt zu werden. Aber wenn mich jemand fragt: ›Geht es dir gut?‹, kann ich nicht mit nein antworten. Ich kann nicht sagen: Hilf mir.
    Zwei Stunden später brach Frank in den Süden des Staats auf. Als er die Fahrertür öffnete, sah ich gerührt, daß die Audiokassette, die er hörte, von einem meiner Bücher war. Er umarmte mich, dann überraschte er mich mit einem Kuß auf den Mund, einem festen Schmatz. »Wenn du reden mußt, ruf an«, sagte er. »Und wenn du Gesellschaft brauchst, komm einfach.«
    Ich nickte.
    »Und sei vorsichtig.«
    Das überraschte mich. Die Kombination von Hitze und Trauer hatte mir in den vergangenen Tagen den Eindruck
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