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Sara

Sara

Titel: Sara
Autoren: Stephen King
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an der University of Maine studiert und uns wie viele andere, schätze ich, zu dem Klang von Shakespeare und dem Tilbury-Town-Zynismus von Edward Arlington Robinson ineinander verliebt. Aber der Schriftsteller, der uns am engsten miteinander verbunden hatte, war kein collegekompatibler Dichter oder Essayist, sondern W. Somerset Maugham, jener ältliche, weltreisende Romancier und Dramatiker mit dem Reptiliengesicht (auf Fotos stets von Zigarettenrauch verhüllt, scheint es) und dem Herzen eines Romantikers. Daher überraschte mich kaum, daß es sich bei dem Buch unter dem Bett um Silbermond und Kupfermünze handelte. Ich hatte es als Teenager nicht einmal, sondern zweimal gelesen und mich leidenschaftlich mit der Figur des Charles Strickland identifiziert. (Natürlich wollte ich schreiben in der Südsee, nicht malen.)
    Sie hatte eine Spielkarte aus einem unvollständigen Blatt als Lesezeichen benutzt, und als ich das Buch aufschlug, fiel mir etwas ein, das sie gesagt hatte, als ich sie kennenlernte. In ›Britische Literatur des zwanzigsten Jahrhunderts‹ war das gewesen, wahrscheinlich 1980. Johanna Arlen war eine begeisterte kleine Studentin im zweiten Studienjahr gewesen. Ich war ein alter Hase und hatte mich nur für die Briten des zwanzigsten Jahrhunderts entschieden, weil ich im letzten Semester Zeit übrig hatte. »In einhundert Jahren«, hatte sie gesagt, »wird es den Literaturkritikern Mitte des zwanzigsten Jahrhunderts zur Schande gereichen, daß sie Lawrence bejubelt und Maugham ignoriert haben.« Das wurde mit verächtlich gutmütigem Gelächter quittiert (alle wußten, daß Liebende Frauen eines der verdammt besten Bücher war, die je geschrieben wurden), aber ich lachte nicht. Ich verliebte mich.
    Die Spielkarte steckte zwischen den Seiten 102 und 103 - Dirk Stroeve hat gerade herausgefunden, daß seine Frau ihn wegen Strickland verlassen hat, Maughams Version von Paul Gauguin. Der Erzähler versucht, Stroeve aufzumuntern. Mein Bester, seien Sie doch nicht unglücklich. Sie wird zurückkommen …
    »Du hast gut reden«, murmelte ich in dem Zimmer, das nun mir allein gehörte.

    Ich blätterte die Seite um und las folgendes: Stricklands beleidigende Ruhe beraubte Stroeve seiner Selbstbeherrschung. Von blinder Raserei erfaßt, stürzte er sich, ohne zu wissen, was er tat, auf Strickland. Dieser, keines Angriffs gewärtig, taumelte, aber trotz der überstandenen Krankheit war er noch ein sehr kräftiger Mann, und einen Augenblick später lag Stroeve, ohne daß er recht wußte, wie ihm geschah, der Länge nach auf dem Fußboden.
    »Sie komischer kleiner Mann«, sagte Strickland.
    Da wurde mir klar, daß Jo nie wieder diese Seite umblättern und hören würde, wie Strickland den bemitleidenswerten Stroeve einen komischen kleinen Mann nannte. In einem Augenblick strahlender Epiphanie, den ich nie wieder vergessen habe - wie könnte ich? Es war einer der schlimmsten Augenblicke meines Lebens -, begriff ich, daß es kein Fehler war, der korrigiert werden, oder ein Traum, aus dem ich erwachen würde. Johanna war tot.
    Die Trauer raubte mir jede Kraft. Wäre das Bett nicht gewesen, ich wäre auf den Boden gefallen. Wir weinen mit den Augen, mehr können wir nicht tun, aber an jenem Abend war mir zumute, als würde jede Pore meines Körpers weinen, jede Runzel und Falte. Ich saß auf ihrer Seite des Betts, hielt die staubige Ausgabe von Silbermond und Kupfermünze in der Hand und heulte. Ich glaube, so sehr aus Überraschung wie aus Schmerz; trotz der Leiche, die ich über einen hochauflösenden Videomonitor gesehen und identifiziert hatte, trotz der Beerdigung und der Tatsache, daß Pete Breedlove mit seiner hohen, klaren Tenorstimme ›Blessed Assurance‹ gesungen hatte, trotz der Bestattungszeremonie mit ihrem Asche zu Asche, Staub zu Staub, hatte ich es nicht wirklich geglaubt. Das Penguin-Taschenbuch schaffte, was der große graue Sarg nicht geschafft hatte: Es bestand darauf, daß sie tot war.
    »Sie komischer kleiner Mann«, sagte Strickland.
    Ich legte mich auf unser Bett zurück, verschränkte die Unterarme über dem Gesicht und weinte mich in den Schlaf wie ein Kind, das unglücklich ist. Ich hatte einen schrecklichen Traum. Darin erwachte ich, sah die Taschenbuchausgabe von Silbermond und Kupfermünze noch auf der Decke neben mir liegen und beschloß, es wieder unter das Bett zu legen, wo ich es
gefunden hatte. Sie wissen ja, wie wirr Träume sind - Logik wie Uhren von Dalí, die so weich geworden
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