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Sanssouci

Sanssouci

Titel: Sanssouci
Autoren: Andreas Maier
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daß die anderen Deutschen seine religiösen Bestrebungen entweder für lächerlich oder für gefährlich hielten. Kurzum, Alexej fand im Leben auf dem russischen Land eine größere Wahrheit und eine größere Gottesnähe als im Leben hierzulande. In Kubain füllte er Öl in seine Lampen, aß Gemüse aus dem Garten, schlachtete seine Hühner, und alles das ohne Geld und ohne jede soziale Absicherung. Niemand in dem Dorf hatte eine soziale Absicherung, und Alexej vermißte sie auch nicht. In Deutschland waren ihm zu viele Menschen auf einem Fleck, man sprach fast nie über die Familie, dafür unterhielt man sich über Fernsehen oder Politik und dergleichen. Politik hatte aber nichts mit Wahrheit zu tun, sondern mit Steuern, Straßen, Konsum, Wirtschaft. Die Menschen in Deutschland dachten an ihre Steuern, ihre Abgaben, ihre Bezüge, ihre Urlaubsreisen, vor allem dachten sie an ihre Autos, aber die meisten hatten nicht einmal Gemüse im Garten, niemand durfte einem anderen das Dach reparieren (man nannte es Schwarzarbeit), und von allem war Geld die Grundlage. Auf dem russischen Land dagegen funktionierte das Leben fast ohne Geld. Rußland ist ein Wald, und Deutschland ist ein Park, das hatte Alexej Max bei ihrer ersten Begegnung im Schwimmbad kurz nach der Hochzeit gesagt. Im Wald ist es gefährlich, aber man braucht dort kein Geld, im Park dagegen kostet allesEintritt. Alexej unterstrich den Begriff »Wald« damals durch ein eigentümliches Beispiel. Er sagte: Wenn du in Rußland mit einem Mädchen zusammen bist, zum Beispiel gehst du mit ihr spazieren, dann mußt du bereit sein, sie zu verteidigen, hiermit. Und er wies auf seine Fäuste.
    Sein Vater hatte in Deutschland die meiste Zeit nur ferngeschaut. Der größte Augenblick für ihn war die Befreiung der Geiseln aus dem Moskauer Dubrowka-Theater (26. 10. 2002). Die gesamte Familie hatte sich über die Darstellung der Befreiung im westlichen Fernsehen aufgeregt. Sie waren stolz auf diese Befreiung. Sie waren Russen und stolz auf ihr Land, aber aus irgendwelchen Gründen weckte das bei den Deutschen Spott und teilweise Verachtung. Sein Vater hielt die Deutschen für ein fleißiges Volk, aber für lächerlich und rückgratlos. Für Alexej waren die Deutschen in erster Linie gottlos, womit er weniger die einzelnen Menschen als vielmehr das ganze Land, oder besser gesagt, die Gesellschaft, die Kultur meinte (er dachte hierbei eher in nationalen Begriffen). Als es dem Vater in Deutschland immer schlechter ging, verließ Alexej sein Dorf und fuhr nach Bad Nauheim zurück. Monatelang hatte er wie ein Einsiedler gelebt, jetzt saß er zwei Tage lang unter achtzig Menschen in einem Bus nach Frankfurt am Main. Er hatte sich inzwischen ein Bärtchen wachsen lassen und war ziemlich abgemagert, weniger durch die anstrengende Arbeit auf dem Feld als vielmehr durch das strenge Fasten. Nach seiner Rückkehr war er verzweifelt. Wieder an die Universität gehen wollte er keinesfalls. Er plante allen Ernstes, einen Gabelstaplerführerschein zu machen, um von der Firma,bei der seine Mutter beschäftigt war, in einem Warenlager eingesetzt zu werden. Der Vater wurde operiert, hatte nun keinen Kehlkopf mehr und konnte gar nicht mehr sprechen. Sein Zimmer mußte ständig mit einem Apparat feucht gehalten werden, die Wunde am Hals quälte ihn, zudem wurde er immer ungeduldiger.
    Alexej machte zu der Zeit einige Reisen. Manchmal war er eine Woche weg, manchmal länger. Wohin er fuhr, sagte er niemandem. Die Familie war inzwischen in eine kleinere Wohnung umgezogen, mit Blick auf ein riesiges, neugebautes Einkaufszentrum, dessen bunte Leuchtreklamen bis nachts in die Fenster der Familie hineinleuchteten. Tagsüber war ein ständiger Verkehr auf dem riesigen Parkplatz. Da konnten sie die Deutschen studieren. Den Markt betraten sie nie, sie kauften in einem kleinen russischen Laden namens »Matröschka« im Untergeschoß eines nahegelegenen Hochhauses ein, das seit zwei, drei Jahren nahezu ausschließlich von Russen bewohnt war … Eines Tages, Alexej war wieder verreist, rief er bei seiner Mutter in Bad Nauheim an und sagte: Mutter, ich bin in München, schon seit einer Weile, bitte mach dir keine Sorgen, ja? Er blieb drei Wochen aus und rief auch nicht mehr an. Dann stand er eines Tages in seiner Kutte mitsamt der Kappe und einem länger gewordenen Bärtchen vor der Tür. Denen, die Alexej gut kannten, schien einerseits völlig verrückt, was er nun getan hatte, andererseits konnten sie
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