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Sanssouci

Sanssouci

Titel: Sanssouci
Autoren: Andreas Maier
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er sich für diesen Jungen verantwortlich. Vielleicht mußte man ihm helfen. Da er allerdings nichts über ihn wußte, konnte er auch nicht einschätzen, was der Junge erzählte. Für Alexej war sehr seltsam, was er heute erlebte.
    Der Mönch aus der Bruderschaft des heiligen Hiob fuhr daraufhin nach Wölfersheim, einem kleinen Ort in der Wetterau, etwa fünfzig Kilometer von Frankfurt entfernt. Seine Mutter lebte dort seit einem halben Jahr. Alexej nahm die Bahn nach Friedberg und wartete bis fünf Uhr auf einen Bus. Eine halbe Stunde später stieg er in Wölfersheim aus und durchquerte den Ort. Er lief durch Gassen, die aus lauter Fachwerkhäusern bestanden, überquerte ein großes Tankstellengelände, kam an einer heruntergekommenen Turnhalle vorbei und gelangte in eine Straße mit meist dreigeschossigen Häusern aus den sechziger Jahren. In einem dieser Häuser wohnte seine Mutter Irina.
    Seine Mutter war seit dem Tod ihres Mannes allein und fuhr jeden Abend nach Friedberg ins städtische Krankenhaus, um zu putzen. Dort war sie mittels einer lokalen Personalvermittlung beschäftigt, man nannte das indirekte Anstellung, Alexej hatte die rechtliche Konstruktion nie verstanden. Sie war kompliziert, wie überhaupt vieles in Deutschland für Alexej kompliziert war. So war zum Beispiel sein Studienabschluß nicht anerkannt worden, obwohl er in Rußland schon jahrelang als Deutschlehrer an der Universität gearbeitet hatte. Als er mit seinen Eltern nach Deutschland gekommen war, mußte er noch einmal anfangen zu studieren, mit dreißig Jahren, was er als Demütigung empfand, obgleich die deutschen Studenten um ihn herum teilweise genauso alt waren wie er. Ihn hatte dieses Studium gequält, es war ihm zu wenig schulmäßig und zu wenig diszipliniert erschienen, eigentlich lernte man nichts, ganz anders als in Rußland, man redete nur immerfort über das Lernen. Auf diese Weise wollte Alexej nicht seine Zeit vertun. Dann ging sein Vater nach Rußland zurück. Er hatte in Deutschland nie eine Arbeit gefunden und stand dem Land inzwischen sehr kritisch gegenüber. Alexej kehrte mit ihm zurück, weil er den Vater nicht allein lassen wollte.
    Sie gingen in ihr altes Dorf Kubain, in dem Alexej als Kind gelebt hatte. Nach einigen Schwierigkeiten mit den dortigen Behörden nahm Alexej eine Stelle an einer Schule für elternlose Kinder an, und gemeinsam mit dem Vater bewirtschaftete er den Garten und das kleine Stück Land, das sie dort besaßen. Dann jedoch wurde der Vater krank, verlor seine Stimme und konnte nur noch flüstern.In Begleitung seines Sohnes fuhr er in die Kreisstadt und ließ sich untersuchen. Wenige Tage später war Alexejs Vater wieder zurück in Bad Nauheim. Die Diagnose im russischen Krankenhaus hatte Kehlkopfkrebs gelautet. Alexej war nun in einer verzwickten Lage, denn er wollte das Häuschen in Kubain nicht aufgeben und die kleine Landwirtschaft, auf die er in den letzten Monaten so viel Mühe verwandt hatte, nicht erneut brachliegen lassen. Vor allem fühlte er sich der Schule gegenüber verpflichtet, nicht nur der Schüler wegen, die er sehr liebte, sondern auch in Hinsicht auf die anderen Lehrer und den Direktor. Er wäre sich fahnenflüchtig vorgekommen, wenn er wieder fortgegangen wäre. Der Vater war ja nicht allein, er hatte die Mutter und den anderen Bruder. Außerdem war sich Alexej immer mehr über die Probleme klargeworden, die auch er mit Deutschland hatte. Er war bereits während seines ersten Aufenthalts in Bad Nauheim ein glühender Anhänger der russisch-orthodoxen Kirche gewesen und hatte sich schon damals an die Fastenanweisungen im Jahreskalender gehalten. Damit hatte er kurz vor seiner Abreise aus Rußland begonnen. Wann immer er konnte, hatte er Gottesdienste aufgesucht, wofür er nicht selten bis Darmstadt oder Wiesbaden gefahren war. Im Bad Homburger Erzpriester Dimitrij hatte er einen Mentor gefunden, der ein eingefleischter Nationalist war und die Idee Rußlands als wahrer Kirche Gottes vertrat. Auch Alexej entwickelte eine immer nationalistischere Rußlandidee und sah gewisse Verhältnisse in seinem Heimatland, die andere kritisierten, bald mit einem eigenen Blick. In der Armut der Menschen auf demrussischen Land steckte für ihn eine Wahrheit. Den Konsum und die Schnelligkeit, mit der alles in Deutschland vonstatten ging, hielt er, mit einem Wort, für gottlos. Außerhalb der Kirche war Max Hornung der einzige, mit dem Alexej über seine Ansichten sprechen konnte. Alexej wußte,
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