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Sansibar Oder Der Letzte Grund

Sansibar Oder Der Letzte Grund

Titel: Sansibar Oder Der Letzte Grund
Autoren: Alfred Andersch
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Stell dir vor, wenn er ohne dich zurückfahren muß, dann ist er doch geliefert. Was soll er ihnen denn erzählen, wo du geblieben bist? Meinst du, er könnte ihnen erzählen, du seist über Bord gefallen?
    Der Junge schüttelte den Kopf.
    Wenn du nicht mit zurückkommst, so werden sie wissen, daß er im Ausland gewesen ist, und sie werden ihn verhaften, sagte Judith.
    Meinetwegen, dachte der Junge, er ist nur ein Erwachsener. Es ist besser, sie verhaften ihn, als daß ich noch zweieinhalb Jahre mit ihm Küstenfischerei machen muß.
    Er ist ein tapferer Mann, sagte Judith, du mußt ihm helfen! Vater war auch ein tapferer Mann, dachte der Junge, aber niemand hat ihm geholfen. Er ist ein Säufer gewesen, das ist alles, was sie von ihm sagen. Das einzige, was sie von mir wissen, ist, daß ich der Sohn eines Säufers bin, der Sohn eines Mannes, der sein Boot verloren hat, weil er stinkbesoffen war. Keinem von ihnen bin ich zu Dank verpflichtet, der Junge aus Holz da nahm auch auf niemand Rücksicht, er haute auch ganz einfach ab und alles, was er zurückließ, war ihm egal, ich will es genauso machen wie er, dachte der Junge, und: so eine Gelegenheit kommt nie wieder.
    Helander
    Meine Träume sind immer trostlos, stellte Helander fest, als er wieder einmal erwachte, gegen vier Uhr morgens, - er schlief diese Nacht nur in kurzen, minutenlangen Intervallen. Der Traum hatte sich in einem öden kleinen Hotel abgespielt, in einem Zimmer mit abblätternden Tapeten im obersten Stock, dort hatte er gewohnt und, als er die schmutzigen Vorhänge aufzog, ein Stockwerk tiefer die Frau gesehen, die, indem sie sich gerade noch mit einer Hand am Balkongeländer festhielt, lautlos und starr über dem Abgrund der Straße gehangen hatte, indes von unten eine Gruppe Menschen zu ihr emporblickte, ebenso lautlos wie die Selbstmörderin, aber die Augen voll höhnischer Neugier. Das Schlimmste an meinen Träumen ist die absolute Trostlosigkeit der Räume, in denen sie sich abspielen, dachte Helander, das Hotel, das Zimmer und die Straße befinden sich in einem Totenreich, und doch beginnt dieser Traum immer mit einer Erinnerung, mit der Erinnerung an ein Hotel, ein Zimmer, eine Straße in Lille, in dem ich ein paar Wochen gewohnt habe, damals, als sie mich nach der Amputation aus dem Lazarett entließen, ehe sie mir den Marschbefehl zum Ersatztruppenteil gaben, wo ich den Abschied bekam. Das Hotel in Lille hatte sich in seine Träume eingenistet, die Trostlosigkeit von Lille, die Bordellstraßen, durch die er einmal gegangen war, in denen die Frontsoldaten und Etappenschweine in Schlangen vor den Häusern anstanden, aber die Realität war nicht so trostlos gewesen wie der Traum, der immer wiederkehrte. Ich habe wiederkehrende Träume, dachte Helander, während er gegen vier Uhr morgens in seinem Studierzimmer auf dem Sofa lag, und der erste wiederkehrende Traum, der sich in mir niedergelassen hat, ist der Traum von dem Hotel in Lille gewesen, in dem der Krieg für mich zu Ende ging. Darnach war die Fortsetzung des unterbrochenen Theologiestudiums gekommen, die Verlobungszeit mit Käthe, das Pfarramt, die kurze Ehe mit Käthe, ihr und des Kindes Tod im Kindbett, und dann die lange Askese und das lange Pfarramt und nichts weiter. Immer habe ich auf irgend etwas gewartet, aber es kam nicht. Ich habe oft unter der Askese gelitten, aber wenn ich ehrlich bin, so war es besser, allein zu sein. Ich habe keine Frau mehr getroffen, die ich hätte heiraten wollen, und so war es besser, allein zu sein und ein bißchen unter der Askese zu leiden. Ich hatte ja die Gemeinde, manchmal wurde ich wirklich gebraucht, und nicht nur an den Betten der Sterbenden, meine Predigten waren nicht schlecht, und bei den Skat- und Rotsponabenden im Hamburger Hof war ich auch nicht schlecht, alles in allem war ich ein Kerl, die Askese hat mich nicht verkorkst. Auf einmal ertappte er sich dabei, daß er von sich in der Vergangenheitsform dachte.
    Er erinnerte sich, daß er noch einen anderen Traum hatte, der immer wiederkehrte - den Traum von der Schaukel in Norwegen. Er saß in einer riesigen Schaukel, die irgendwo in den Wolken über einem Fjord angebracht war, er blickte auf eine dunkle Landschaft aus Gebirgen und Meer und in den Fjord hinab, und die Schaukel begann zu schwingen, hin und her, hin und her. Dieser Traum hatte seinen Ursprung nicht in einer Realität, der Pfarrer war nie in Norwegen gewesen, vielleicht entsprang er einem Wunsch, denn er wäre immer gern
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