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Sansibar Oder Der Letzte Grund

Sansibar Oder Der Letzte Grund

Titel: Sansibar Oder Der Letzte Grund
Autoren: Alfred Andersch
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Huckleberry Finn. Man mußte raus. Es gab drei Gründe, weshalb man aus Rerik raus mußte. Der erste Grund lautete: weil in Rerik nichts los war. Es war tatsächlich überhaupt nichts los. Niemals wird hier irgend etwas mit mir geschehen, dachte der Junge, während er den herbstgelben, lanzettförmigen Weidenblättern nachsah, wie sie auf der Treene langsam abschwammen.
    Helander
    Knudsen würde helfen, dachte Pfarrer Helander, Knudsen war nicht so. Er trug nicht nach. Gegen den gemeinsamen Feind würde er helfen.
    Von draußen kein Echo. Es gab nichts Leereres als den Georgen-Kirchplatz im Spätherbst. Helander betete einen Augenblick lang heftig gegen die Leere an. Gegen die drei schon entlaubten Linden in der Ecke zwischen Querschiff und Chor, gegen das schweigende dunkle Rot der Ziegelwand, deren Höhe er vom Fenster seiner Studierstube aus nicht abmessen konnte: das südliche Querschiff der Georgen-Kirche. Der Boden des Platzes war ein wenig heller als die braunroten Backsteine der Kirche und des Pfarrhauses und der niedrigen Häuser, die sich anschlossen, alte Häuser aus gebrannten Ziegeln, Häuser mit kleinen Treppengiebeln und einfache Häuser mit Dächern aus glasierten Hohlziegeln.
    Niemals ist jemand über diesen Platz gegangen, dachte Helander, den Blick auf das sauber gefegte Pflaster gesenkt. Niemals. Es war ein absurder Gedanke. Natürlich gingen Leute auch über diesen toten Winkel des Kirchplatzes, in dem das Pfarrhaus stand. Die Fremden, die im Sommer aus den Seebädern kamen, um die Kirche zu betrachten. Mitglieder seiner Gemeinde. Der Küster, Pfarrer Helander selbst. Dennoch, dachte Helander, war der Platz die vollkommene Einsamkeit.
    Ein Platz so tot wie die Kirche, dachte der Pfarrer. Weshalb nur Knudsen helfen konnte.
    Er hob den Blick: die Querschiffwand. Dreißigtausend Ziegel als nackte Tafel ohne Perspektive, zweidimensional, braunes Rot, schieferfarbenes Rot, gelbes Rot, blaues Rot, zuletzt nur ein einziges, dunkel phosphoreszierendes Rot, ohne Tiefe vor seinem, Helanders, Fenster hängend, sein jahrzehntelanges Gegenüber, die Tafel, auf der die Schrift nicht erschien, auf die er wartete, so daß er sie mit seinen eigenen Fingern bemalte, das Geschriebene immer wieder auswischte, neue Worte und Zeichen schrieb. Das Pflaster des Platzes wartete auf Schritte, die nie ertönten; die Ziegelwand auf eine Schrift, die nie erschien.
    Pfarrer Helander war so ungerecht, den Ziegeln die Schuld daran zu geben, den dunklen Ziegeln der Häuser und der Kirche. Seine Vorfahren waren mit dem reisigen König aus einem Land gekommen, in dem die Häuser aus Holz gebaut und bunt gestrichen wurden. In jenem Lande knirschten die Schritte fröhlich auf dem Kies vor den hölzernen Pfarrhäusern, und auf den Balken war die Botschaft der Gerechtigkeit und des Friedens eingeschnitzt. Fröhliche Träumer waren seine Vorfahren gewesen, als sie sich verleiten ließen, in ein Land zu ziehen, in dem die Gedanken so dunkel und maßlos waren wie die Steinwände der Kirchen, darinnen sie begannen, die rechte Botschaft zu predigen. Sie wurde nicht gehört, die rechte Botschaft: die Finsternis war stärker geblieben als das kleine Licht, das sie aus dem freundlichen Land mitbrachten.
    Die dunklen Gedanken und die maßlosen Ziegelkirchen waren daran schuld, daß er nun gehen und Knudsen um Hilfe bitten mußte, dachte der Pfarrer. Sein heftiges, gerötetes, leidenschaftliches Gesicht färbte sich stärker. Seine Prothese knarrte, als er zum Schreibtisch ging, um die Schlüssel des Pfarrhauses aus der Schublade zu nehmen, und er spürte den Schmerz in seinem Beinstumpf, der sich seit einiger Zeit wieder meldete, wenn er einen Schritt zu schnell ging. Der Schmerz hatte die Form eines Stiches: er spießte ihn auf. Der Pfarrer blieb stehen und ballte die Fäuste. Und auf einmal, während der Spieß langsam zurückgezogen wurde, hatte er das Gefühl, als ob hinter ihm, auf der Kirchenwand, von der er sich abgewendet hatte, die Schrift erschien, auf die er wartete. Vorsichtig drehte er sich um. Aber die Wand war so leer wie immer.
    Der Junge
    Zwar saß er versteckt unter einem Vorhang aus Weidenzweigen, aber er konnte auf den Turm von St. Georgen blicken und die Uhrzeit ablesen. Halb drei. In ‘ner halben Stunde muß ich auf dem Kutter sein, weil Knudsen um fünf Uhr abfahren will, dachte er, und dann fängt wieder die langweilige Fischerei an, das Herumkriechen mit dem Boot am Buksand und unter dem Land, die eintönige Arbeit
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