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Sansibar Oder Der Letzte Grund

Sansibar Oder Der Letzte Grund

Titel: Sansibar Oder Der Letzte Grund
Autoren: Alfred Andersch
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wiegen würden.
    Er kam an einen breiten Wasserlauf, eine Art Priel, und es wurde ihm klar, warum Knudsen es für unmöglich erklärt hatte, die Lotseninsel in der Nacht zu Fuß zu erreichen. Einer, der sich nicht auskannte, hätte in der Dunkelheit keine Furt durch den Priel und die Gewässer, die ihm folgten, finden können; Gregor sah sie in der Ferne schimmern. Er sah, daß der Priel das Haff mit dem Meer verband, und ging an ihm aufwärts, in der Richtung zum Haff. Er fand eine Stelle, an der er bis zum jenseitigen Ufer den Grund erkennen konnte, zog seine Schuhe aus und krempelte die Hosen hoch. Als er aufsah, erblickte er die Türme von Rerik in der Ferne. Von hier aus gesehen waren sie keine schweren roten Ungeheuer mehr, sondern kleine blasse Klötze im Grau des Morgens, feine quadratische Stäbe, blaugrau am Rande des Haffs. Aber im Osten hatte sich zwischen das Meer und den einförmigen Himmel ein scharlachroter Streifen geschoben. Er war die einzige Farbe in einer farblosen Welt, in einer Welt aus grauem Kieselstrand und schlafenden Vögeln, aus der Erinnerung an einen schwarzen Mund und an ein seltsames, rätselhaftes Wesen aus Holz. Wenn das Morgenrot verschwunden ist, wird es zu regnen beginnen, dachte Gregor, es ist nicht einmal imstande, den Morgen zu färben. Das graue Morgenlicht erfüllte die Welt, das nüchterne, farblose Morgenlicht zeigte die Gegenstände ohne Schatten und Farben, es zeigte sie beinahe so, wie sie wirklich waren, rein und zur Prüfung bereit. Alles muß neu geprüft werden, überlegte Gregor. Als er mit den Füßen ins Wasser tastete, fand er es eisig.
    Der Junge
    Der Junge saß wieder im Cockpit, Knudsen hatte, seitdem sie fuhren, kein Wort mit ihm gesprochen, aber der Junge dachte nicht an Knudsen, sondern er saß voller Staunen da und dachte: ach so, das ist ‘ne politische Sache. Es war noch dunkel, und er merkte, daß Knudsen sich mit dem Boot vorsichtig durch die Sperrzone durchtastete. Das Mädchen ist ‘ne Jüdin, dachte der Junge, er wußte von Juden nur das, was sie ihm in der Schule erzählt hatten, aber er verstand plötzlich, daß Juden so was Ähnliches waren wie Neger, das Mädchen spielte hier an Bord genau die gleiche Rolle wie der Neger Jim für Huckleberry Finn, sie war jemand, den man befreien mußte. Der Junge war fast ein wenig neidisch: man mußte also ‘n Neger oder ‘n Jude sein, damit man einfach abhauen konnte; beinahe dachte er: die haben es gut. Und plötzlich kam ihm eine Erleuchtung, ich werd mich als Politischen ausgeben, überlegte er, wenn wir drüben sind in Dänemark oder Schweden, wenn man ‘n Politischer ist, wird man nicht zurückgeschickt, ‘n Junge, der es zu Hause einfach nicht mehr aushält, darf nicht flüchten, aber ‘n Politischer darf. Ich werd ihnen sagen, daß ich politisch bin und daß ich meinen Namen nicht nennen darf, und vielleicht werden sie nichts dagegen haben, wenn ich dann Heuer auf einem ihrer Frachter nehme, und dann komme ich vielleicht nach Amerika ‘rüber oder nach Sansibar.
    Knudsen schickte das Mädchen runter, weil es hell wurde und er nicht wollte, daß es auf Deck herumsaß und gesehen wurde, und es setzte sich neben den Jungen. Sie ist höchstens drei Jahre älter als ich, dachte der Junge, er fing wieder an, an seiner Köderschnur zu arbeiten, und nach einer Weile fragte er: Warum muß er nach drüben? Er deutete auf das Paket mit der Figur.
    Himmel, dachte Judith, wie soll ich ihm das erklären? Hast du ihn dir genau angesehen? fragte sie.
    Ja, erwiderte der Junge.
    Er sieht doch aus wie einer, der alle Bücher liest, oder?
    Er liest nur die Bibel, sagte der Junge. Deswegen war er doch in der Kirche aufgestellt.
    In der Kirche, ja, da las er die Bibel. Aber hast du ihn vorhin im Boot gesehn?
    Ja.
    Da las er ein ganz anderes Buch, fandest du nicht?
    Was für eins ?
    Irgendeins, sagte Judith. Er liest alles, was er will. Weil er alles liest, was er will, sollte er eingesperrt werden. Und eswegen muß er jetzt wohin, wo er lesen kann, soviel er will.
    Ich lese auch alles, was ich will, sagte der Junge.
    Sag es lieber niemand! meinte Judith.
    Der Junge hatte gar nicht hingehört. Er sagte: Und deswegen will ich auch ‘raus. Ich will auch drüben bleiben und verschwinden.
    Hör mal, sagte Judith erschrocken, du willst doch hoffentlich den Mann dort oben nicht im Stich lassen.
    Knudsen? fragte der Junge. Der ist mir doch egal, fügte er hinzu.
    Das kannst du nicht! Judith geriet in Erregung.
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