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Sanftes Monster Bruessel oder die Entmuendigung Europas

Sanftes Monster Bruessel oder die Entmuendigung Europas

Titel: Sanftes Monster Bruessel oder die Entmuendigung Europas
Autoren: Hans Magnus Enzensberger
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Ich verstehe, worauf Sie hinauswollen. Auf unser ewiges Defizit. Ja, es ist schade um die Demokratie. Aber der Österreicher, den Sie so gerne zitieren …
    B: Er heißt Menasse.
    A: Er hat nur den Mut, auszusprechen, was der Fall ist. Sie dagegen hüten sich, es einzugestehen. Lieber verschanzen Sie sich hinter allen möglichen intellektuellen Autoritäten, von Lao Brétie bis Hannah Arendt. Dabei hat Jean Monnet, einer unserer Gründer, von dem Sie ein sehr sympathisches Porträt gezeichnet haben, das Verwelken der klassischen Demokratie schon sehr früh kommen sehen …
    B: Er hat es befördert …
    A: Er hat ausgeplaudert, was alle ahnten, wenn auch, vorsichtig wie er war, nur im kleinen Kreis. Damit hat er sich wenig Freunde gemacht.
    B: Mit mir können Sie nicht rechnen, wenn es um das Gedeihen Ihrer Chimäre geht. Ich bin alt genug, um die Diktatur erlebt zu haben. Und ich bin weit entfernt davon, der einzige zu sein. Mir fällt, wenn es um die Demokratie geht, immer ein alter Spruch ein: »Wer sich nicht wehrt, lebt verkehrt.«
    A: Eine schöne Maxime. Aber Sie werden mir zugeben, daß sich die Unruhe bislang sehr in Grenzen hält. Auch in mein Büro dringt ein gewisses Grummeln, aber davon stürzt die Union nicht ein.
    B: »Hoffentlich wird es nicht so schlimm, wie es jetzt schon ist«, sagt Karl Valentin, ein Münchener Weiser aus dem Panoptikum. Es knistert im Gebälk der Union.
    A: Ich bin der letzte, der das bestreiten wollte. Aber ist das einGrund, den Untergang des Abendlandes an die Wand zu malen? Das sollte man lieber den Journalisten und den Spekulanten überlassen. Sie tun es gerne, die einen, um die Auflage, die anderen, um ihre Kursgewinne in die Höhe zu treiben.
    B: Einverstanden. Die Apokalypse hat ihre Propheten schon immer enttäuscht.
    A: Und was folgt aus all dem, was Sie, zu Recht oder zu Unrecht, behaupten?
    B: Auf meine Vorschläge sind Sie ganz gewiß nicht angewiesen. Sie verfügen über eine Schar von Experten und Beratern; ich zähle mich weder zu den einen noch zu den anderen.
    A: Was glauben Sie wohl, warum ich mich darauf gefreut habe, Sie kennenzulernen? Ich bin es gewohnt, meine Besucher auszubeuten, indem ich ihren Rat einhole. Also tun Sie mir bitte den Gefallen und rücken Sie heraus mit Ihren Überlegungen! Was schlagen Sie vor?
    B: Sie treiben mich in die Enge. Aber bitte. Ich werde auf Ihre Frage mit ein paar Gegenfragen antworten. Erstens: Warum kennen die Fürsprecher der Union nur eine Richtung? Weiter so! Augen zu und durch! Ist fortwährendes Wachstum ein Naturgesetz? Ist alles, was geschehen ist, irreversibel?
    A: Das heißt?
    B: Clausewitz, der klügste der Strategen, rühmt den Rückzug als die schwierigste aller Operationen. Wer sich in eine Sackgasse verrennt und nicht umkehren kann, fordert der nicht seine eigene Niederlage heraus?
    A: Sie denken also an eine Roßkur?
    B: Sagen wir lieber: an eine Diät. Ihre Gesundheitskommissare werfen den Europäern vor, daß sie immer fetter werden; dagegen müsse man entschieden vorgehen. Wie wäre es, wenn die Union sich ein solches Rezept selbst verschriebe? Auch Institutionen neigen zur Adipositas. Ihr Leibesumfang nimmt zu, wenn man nichts dagegen tut. Eine Schrumpfkur schiene mir angebracht. Wie Sie wissen, ist das eine heroische Aufgabe. ÜberflüssigePfunde loszuwerden, fällt niemandem leicht. Der Apparat! Das Dienstrecht! Die Planstellen! Die Ausdehnung als Selbstzweck ist eine Gefahr für Ihr eigenes Projekt.
    A: Worauf wollen Sie hinaus? Soll sich die Union nach und nach selbst abwickeln?
    B: Merken Sie nicht, wie bescheiden ich der Chimäre begegne, wie wenig ich mir von radikalen Lösungen verspreche? Ich komme mir geradezu schüchtern vor, wenn ich auf die Thesen zurückkomme, die andere schon vor Jahrzehnten vorgebracht haben. »Das Europa der verschiedenen Geschwindigkeiten«, die »variable Geometrie«, die »abgestufte Integration«, das »Europa à la carte«.
    A: Sie wissen aber so gut wie ich, daß es bei bloßen Worten nicht geblieben ist. Denken Sie an das Schengener Abkommen und an die Währungsunion. Das alles sind Abmachungen, die auf solche Modelle zurückgehen.
    B: Die Hardliner haben sich nur zähneknirschend damit abgefunden. Sie bilden sich ein, aus einer Sackgasse käme man heraus, indem man mit dem Kopf gegen die Wand anrennt. Dabei kann man sich nur einen blutigen Kopf holen.
    A: Ich finde, daß Sie zu laut Alarm schlagen.
    B: Wenn Sie sich in Europa umhören, werden Sie bemerken, daß es
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