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Sanftes Monster Bruessel oder die Entmuendigung Europas

Sanftes Monster Bruessel oder die Entmuendigung Europas

Titel: Sanftes Monster Bruessel oder die Entmuendigung Europas
Autoren: Hans Magnus Enzensberger
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» un-American activities «, die andern von »antisowjetischen Umtrieben«. Ein deutscher Politiker, der seinen Gegnern mit dem Argument beikommen möchte, sie verhielten sich »undeutsch«, würde sich unmöglich machen. Dagegen kann es sich ein luxemburgischer Premierminister offenbar erlauben, der Kanzlerin eines Nachbarlandes ihre »uneuropäische Art« vorzuwerfen, wenn ihm ihre Entscheidungen mißfallen; und noch vor nicht allzulanger Zeit hat José Manuel Barroso, der Präsident der Kommission, behauptet, Mitgliedsländer, die sich seinen Plänen widersetzten, handelten »nicht in einem europäischen Geist«. (Er wollte eine neue EU -Steuer erzwingen und bei den Verhandlungen über den EU -Haushalt durch die Hintertür in das Budgetrecht der nationalen Parlamente eingreifen.) Daß der Geist, von dem hier die Rede geht, ausgerechnet auf das Haupt eines nicht gewählten Statthalters gekommen sein sollte, fällt schwer zu glauben. Es ist es eine ziemlich abstruse Vorstellung, daß das Personal der Union darüber zu entscheiden hätte, wer ein guter Europäer ist und wer nicht.
    Immerhin kann sich die Europäische Union aber einer Herrschaftsform rühmen, für die es kein historisches Vorbild gibt. Ihre Originalität besteht darin, daß sie gewaltlos vorgeht. Sie bewegt sich auf leisen Sohlen. Sie gibt sich erbarmungslos menschenfreundlich. Sie will nur unser Bestes. Wie ein gütiger Vormund ist sie besorgt um unsere Gesundheit, unsere Umgangsformen und unsere Moral. Auf keinen Fall rechnet sie damit, daß wir selber wissen, was gut für uns ist; dazu sind wir in ihren Augen viel zu hilflos und zu unmündig. Deshalb müssen wir gründlich betreut und umerzogen werden.
    Wir rauchen, wir essen zuviel Fett und Zucker, wir hängen Kruzifixe in Schulzimmern auf, wir hamstern illegale Glühbirnen, wir trocknen unsere Wäsche im Freien, wo sie nicht hingehört. Wo kämen wir hin, wenn wir selbst entscheiden könnten, wem wir unsere Wohnung vermieten wollen! Kann es angehen, daß es Abweichler gibt, die ihre Betriebsrenten auszahlen, wie es ihnen beliebt, und daß jemand in Madrid oder Helsinki ein Tempolimit einführen will, das der Euronorm widerspricht? Müssen nicht überall, ganz ohne Rücksicht auf Klima und Erfahrung, überall genau dieselben Baustoffe verwendet werden? Kann es jedem Land überlassen bleiben, wie es in seinen Universitäten und Schulen zugeht? Wer sonst als die Kommission soll darüber befinden, wie der europäische Zahnersatz oder die europäische Kloschüssel auszusehen haben? Wäre nicht ein heilloses Durcheinander zu befürchten, wenn über solche Fragen in Stockholm oder London statt in Brüssel entschieden würde? Wo kämen wir hin, wenn sich am Ende irgendein Magistrat darüber Gedanken machte, nach welchen Vorgaben in seiner Gemeinde Busse und U-Bahnen fahren? Solche Extratouren dürfen auf keinen Fall geduldet werden. Die Europäische Union weiß alles besser als wir.
    Damit ist sie zwar der bisher kühnste, aber durchaus nicht der einzige Versuch, eine so ureuropäische Erfindung wie die Demokratie hinter sich zu lassen; denn mit ihrem Hang zu Bevormundung und Kontrolle steht sie ja durchaus nicht allein da. Es wäre unfair zu verschweigen, wie weit andere Gesellschaften auf diesem Weg vorangeschritten sind.
    In Großbritannien hat die telematische Überwachung der Bürger eine Perfektion erreicht, von der im vergangenen Jahrhundert KGB und Staatssicherheit nur träumen konnten. Die Evangelisten der Cybersphäre haben gegen die Ausspähung der Bürger durch die Kommunikationskonzerne nichts einzuwenden; sie propagieren ganz offen die Abschaffung der Privatsphäre. Am Applaus aller Sicherheitsdienste und Polizisten wird es ihnen nicht fehlen. Auch the land of the free hat sich schon durch manche postdemokratische Pionierleistung hervorgetan. Das sogenannte executive privilege erlaubt es dem Präsidenten der USA , Kriege vom Zaum zu brechen, Konzentrationslager wie Guantanamo einzurichten, Foltermethoden zu legitimieren, Entführungen und gezielte Tötungen anzuordnen, weil er im Namen der nationalen Sicherheit keine parlamentarischen oder gerichtlichen Untersuchungen fürchten muß. Wieder andere blicken neidisch auf den ökonomischen Erfolg Chinas, der sich angeblich dem Umstand verdankt, daß seinen unmündigen Milliarden nichts anderes übrigbleibt, als den weisen Beschlüssen der herrschenden Partei zu folgen.
    Von solchen Modellen ist die aufgeklärte EU weit entfernt. Sie herrscht,
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