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Sanftes Monster Bruessel oder die Entmuendigung Europas

Sanftes Monster Bruessel oder die Entmuendigung Europas

Titel: Sanftes Monster Bruessel oder die Entmuendigung Europas
Autoren: Hans Magnus Enzensberger
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höchste Zeit ist, etwas gegen die drohende Sklerose zu unternehmen.
    A: Ihren Pessimismus in Ehren …
    B: Davon kann gar keine Rede sein. Im Gegenteil! Im Grunde halte ich mich ganz einfach an das reale Europa, von dem die Union sich immer weiter entfernt, und da sehe ich keinen Grund, schwarzzusehen.
    A: Das reale Europa? Was meinen Sie damit? Ich weiß beim besten Willen nicht, was das heißen soll.
    B: Haben wir uns nicht, wenn auch ungern, an eine andere Unterscheidung gewöhnen müssen – die zwischen der Realwirtschaft und ihrem chimärischen Gegenpart, der Ökonomie derFinanzmärkte? So ähnlich geht es auch in der europäischen Politik zu. Auf der einen Seite die Lebenswelt der Unionsbürger, auf der anderen, weitgehend isoliert davon, das Biotop der Institutionen. Ist es so schwer, eins vom andern zu unterscheiden?
    A: Geht es noch ein wenig konkreter?
    B: Gerne. Was ich nun aus meiner Tasche ziehe, ist ein kleines schwarzes Buch. Ein Kalender, eine Agenda, ein Adressenverzeichnis. An einem solch unscheinbaren Gegenstand, wie er sich in jedem Haus findet, läßt sich der wahre Stand der europäischen Integration ablesen. Viele brauchen ein solches Büchlein nicht mehr. Die Telephone sind zu Alleskönnern geworden, die es ersetzen. Der eine weiß jedenfalls, wie er den polnischen Stukkateur erreicht, wenn sich Risse im Wohnzimmer zeigen; der andere versteckt die Nummer seiner heimlichen Geliebten, die Alice Zimermans heißt und in Amsterdam zu Hause ist, lieber unter dem unverfänglichen Buchstaben A; der dritte kennt den Portier eines kleinen Hotels in Odense. Es wimmelt in diesen Notizbüchern, über ganz Europa verstreut, von geschiedenen Ehemännern, Sommerhäusern, Geschäftspartnern, Enkeln, Kontonummern, Lehrern und Schülern, Websites, Münzsammlern, Winzern, Putzfrauen, Automechanikern, Zahnärzten und Schwarzarbeitern …
    A: Hören Sie auf! Ich verstehe, was Sie meinen. Aber Sie vergessen, daß es ohne die Europäische Union nie so weit gekommen wäre.
    B: Sie hat diesen Prozeß beschleunigt und erleichtert. Das ist wahr. Aber wir haben uns, was die Integration Europas betrifft, längst von den Behörden unabhängig gemacht. Heute verbinden uns die zivilen Netze stärker als alle Abkommen, die Sie hier in Brüssel aushandeln. Millionen von Fäden schaffen Interdependenzen, die sich Ihrer Kontrolle entziehen und die Sie weder knüpfen noch zerreißen können.
    A: Das hat auch niemand vor.
    B: Die Institutionen, die Europa über einen Kamm scheren undunsere Lebenswelt kolonisieren wollen, hindern uns mehr, als sie uns nützen. Sie sind darauf erpicht, uns zu normieren. Einheit ist gut, aber Vielfalt ist besser. Bitte, lassen Sie uns mit Ihren überflüssigen Direktiven in Ruhe.
    A: Sie sprechen von sich selbst.
    B: Das glaube ich kaum. Wenn ich noch einen weiteren meiner Eideshelfer zitieren darf …
    A: Nur zu!
    B: Odo Marquard, ein ungewöhnlich vernünftiger deutscher Philosoph, hat gesagt, daß schon manche die Welt verändert hätten, es käme aber darauf an, sie zu verschonen.
    A: Nicht gerade ein orthodox marxistischer Standpunkt.
    B: Meinetwegen. Sie haben viel Geduld mit meinen Tiraden an den Tag gelegt.
    A: Geduld gehört zu meinem Beruf.
    B: Wenigstens auf eine unbestreitbare Wahrheit können wir uns vielleicht einigen.
    A: Lassen Sie hören.
    B: Zwar liegt Brüssel in Europa, aber Europa liegt nicht in Brüssel.
    A: Wem sagen Sie das? Nächste Woche fahre ich endlich wieder nach Hause, in das Nest, wo ich aufgewachsen bin. Dort finde ich das reale Europa, auf das Sie sich berufen. Die Leute dort sind allesamt Dickköpfe.
    B: Und Sie?
    A: Ich bin genau wie die andern. Wie fanden Sie den Ossobuco?
    B: Danke, Monsieur. Er war vortrefflich.

Einige Quellen
    Hannah Arendt, »Die Sonning-Preis-Rede. Kopenhagen 1975«, in: Text + Kritik , H. 166/167, S. 3-4.
    Artikel »Europäische Kommission«, in: de.wikipedia.org.
    Artikel »Europäischer Gerichtshof für Menschenrechte«, in: de.wikipedia.org.
    Gottfried Benn, »Außenminister«, in: Destillationen. Neue Gedichte , Wiesbaden: Limes 1953.
    Gottfried Benn, »Der Broadway singt und tanzt«, in: Aprèslude , Wiesbaden: Limes 1955.
    Etienne de La Boétie, Discours de la servitude volontaire. 1577. Von der freiwilligen Knechtschaft . Unter Mitwirkung von Neithard Bulst übersetzt und herausgegeben von Horst Günther, Frankfurt am Main: Europäische Verlagsanstalt 1980.
    Thierry Demey, Bruxelles, capitale de l’Europe , Brüssel: Badeaux
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