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Sanftes Monster Bruessel oder die Entmuendigung Europas

Sanftes Monster Bruessel oder die Entmuendigung Europas

Titel: Sanftes Monster Bruessel oder die Entmuendigung Europas
Autoren: Hans Magnus Enzensberger
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die Katze aus dem Sack gelassen. Er räumte ein, daß die Vorschriften der EU für die europäische Wirtschaft mit 600 Milliarden Euro jährlich zu Buche schlagen. Das kommt dem gesamten Bruttoinlandsprodukt der Niederlande gleich.)
    Allerdings haben sich die Gründer der Union einst dazu hinreißen lassen, in ihren Verträgen einen Grundsatz festzuschreiben, der so vernünftig ist, daß er jedem Kind einleuchtet: »Die Ziele der Union werden unter Beachtung des Subsidiaritätsprinzips verwirklicht«, heißt es dort. Dieses Fremdwort bezeichnet eine Grundregel, die an Schlichtheit schwer zu überbieten ist: Was in einer Gemeinde entschieden werden kann, soll Sache der Gemeinde bleiben; womit die Region allein fertig wird, das fällt in ihre Zuständigkeit; und was der Nationalstaat regeln kann, muß ihm überlassen bleiben: »Die EU darf nur dann aktiv werden, wenn ein Problem sachgerecht nicht auf nationaler, sondern nur auf europäischer Ebene gelöst werden kann«, sagt Roman Herzog, ein Staatsrechtler und ehemaliger Bundespräsident. »Eigentlich sollte dies eine Selbstverständlichkeit sein«, doch »im Bewußtsein der Brüsseler Politiker, Beamten und Verbandsvertreter spielt es kaum eine Rolle.«
    Wie so oft in der Politik hat dieses Prinzip kaum eine Chance, verwirklicht zu werden, und zwar gerade weil es so vernünftig ist. Ernst gemeint war es ohnehin nie. Das Fremdwort ist ein Fremdwort geblieben, auch wenn es wie ein Mantra ständig wiederholtwird. Da es aber nun einmal in den Verträgen steht, könnte es ja sein, daß sich mancher Unionsbürger fragt, wie es mit dem dritten Element der klassischen Gewaltenteilung bestellt ist, nämlich der Judikative, deren Aufgabe es ist, die Einhaltung der Verträge zu überwachen.
    Aber auch hier hält Roman Herzog wenig Trost bereit. »Es kracht gewaltig im Gebälk der europäischen Rechtsprechung. Ursache ist der Europäische Gerichtshof, der, mit immer erstaunlicheren Begründungen den Mitgliedstaaten ureigene Kompetenzen entzieht und in ihre Rechtsordnungen eingreift. Inzwischen hat er einen Großteil des Vertrauens verspielt, das ihm einst entgegengebracht wurde.« Das höchste Gericht der Union habe, ebenso wie das Europäische Parlament, ein Eigeninteresse an einer stetigen Ausweitung seiner Kompetenzen. Daß mit dieser Praxis auch die Verfassungen der Mitgliedstaaten auf rüde Weise beschädigt werden, läßt den EuGH kalt. Er glaubt offenbar, er könne den unveränderlichen Kern des deutschen Grundgesetzes außer Kraft setzen. Dem hat unlängst das deutsche Verfassungsgericht einen Riegel vorgeschoben. Seitdem betrachtet die europäische Nomenklatura Karlsruhe als lästigen Querulanten.
    Nicht nur nach innen zeigt sich, daß die europäischen Institutionen an einem Größenwahn leiden, der keine Grenzen kennt. Ihr ungebremster Erweiterungsdrang ist notorisch. Länder die allen Beitrittskriterien hohnsprechen, wurden umstandslos und regelwidrig eingemeindet. Nach wie vor streben unsere kleinen Geopolitiker danach, ihr Europa immer weiter auszudehnen. Warum nicht bis in den Kaukasus und bis in den Maghreb vordringen? Es wäre doch so schön, Weltmacht zu sein! Daß die Europäer von solchen Plänen wenig begeistert sind, darauf kann man keine Rücksicht nehmen.
    Ihren Widerstand kann man sich in Brüssel nur dadurch erklären, daß man es mit einer ignoranten, aber rebellischen Bevölkerung zu tun hat, die nicht weiß, was zu ihrem Besten ist. Deshalb tutman gut daran, sie gar nicht erst zu befragen. Der bloße Gedanke an ein Referendum löst bei der Eurokratie sofort Panik aus. Die Spuren von insgesamt neun gescheiterten Volksbefragungen schrecken alle Verantwortlichen. Immer wieder haben die Norweger, die Dänen, die Schweden, die Niederländer, die Iren und die Franzosen nein gesagt. Wenn es nach den Managern der Union geht, darf so etwas nie wieder vorkommen. Störend wirkt sich auch aus, daß den Völkern, die die europäische Demokratie erfunden haben, wie den Briten und den Schweizern, der Abschied von dieser Regierungsform offenbar schwerfällt.
    Deshalb haben sich die Wortführer in Brüssel, Straßburg und Luxemburg eine Strategie ausgedacht, die sie gegen jede Kritik immunisieren soll. Wer ihren Plänen widerspricht, wird als Antieuropäer denunziert. Dieses Kidnapping der Begriffe erinnert von ferne an die Rhetorik des Senators Joseph McCarthy und des Politbüros der KPdSU . Was diesen nicht paßte, pflegten sie zu verleumden. Die einen sprachen von
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