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Sanftes Monster Bruessel oder die Entmuendigung Europas

Sanftes Monster Bruessel oder die Entmuendigung Europas

Titel: Sanftes Monster Bruessel oder die Entmuendigung Europas
Autoren: Hans Magnus Enzensberger
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ganz im Gegenteil, nicht durch Befehl, sondern durch Verfahren. Zum Glück verfügt sie weder über eine Armee noch über eine eigene Polizei; soweit wir wissen, unterhält sie bisher nicht einmal einen Geheimdienst, der CIA , BND und FSB das Wasser reichen könnte. Schon deshalb verbietet sich der Vergleich mit autoritären Regimes, wie sie in der arabischen Welt, auf Kuba, in Myanmar oder anderswo üblich sind. Die Union sieht ihre Aufgabe nicht darin, ihre Bürger zu unterdrücken, sondern darin, alle Lebensverhältnisse auf dem Kontinent möglichst lautlos zu homogenisieren. Hier wird nicht an einem neuen Völkergefängnis gebaut, sondern an einer Besserungsanstalt, der diegütige, aber strenge Aufsicht über ihre Schutzbefohlenen obliegt. Im Idealfall soll das Leben ihrer Zöglinge von einer paragraphenreichen Hausordnung, die von der Festlegung des Wohngeldes bis zum gesunden Speiseplan reicht, zentral geregelt und normiert werden. Allerdings ist die Umerziehung von fünfhundert Millionen Menschen eine herkulische Aufgabe, an der schon ganz andere Regimes sich verhoben haben. Man darf bezweifeln, daß unsere Vormünder ihr gewachsen sind.
    Mit der weichen Form der Herrschaft, die sie ausübt, hat die Union tatsächlich Neuland betreten. Sie ist, im doppelten Sinn des Wortes, eine Chimäre: ein utopisches Projekt und zugleich ein Mischwesen, das seine menschenfreundlichen Absichten, die es mit List und Geduld verfolgt, mit unbedingter Autorität und erzieherischem Druck durchsetzen möchte.
    In einem klassischen Text der politischen Theorie, der vor über 350 Jahren erschienen ist, hat Étienne de La Boétie, ein Freund Montaignes, sich gefragt, wie es möglich ist, daß Menschen sich mit ihrer eigenen Entmündigung abfinden. »Die Völker«, behauptet er, »sind es selbst, die sich quälen lassen, oder vielmehr, die sich selber quälen, denn würden sie Schluß machen mit dem Dienen, so wären sie frei davon. Das Volk gibt seine Unabhängigkeit und beugt sich unter das Joch, es willigt in sein Elend ein und jagt ihm vielmehr nach. Wenn es das Volk etwas kostete, seine Freiheit wiederzuerringen, so würde ich es nicht bedrängen, obwohl es nichts Köstlicheres für den Menschen gibt, als sich wieder in den Stand seiner natürlichen Rechte zu setzen.«
    Er hat dabei allerdings nicht die gewaltlose Vormundschaft einer aufgeklärten Bürokratie im Sinn, sondern die unverhüllte Herrschaft der Diktatoren. »Je mehr man ihnen gibt und dient, um so stärker befestigen sie ihre Stellung und werden mächtiger und dreister; gib man ihnen aber nichts und verweigert den Gehorsam, so braucht es weder Kampf noch Schlag, und sie stehen bloß und kraftlos da und sind nichts mehr.«
    Das Pathos dieses genialen Achtzehnjährigen aus der Renaissance ist uns fremd geworden, ebenso wie die Verhältnisse, auf die der Autor sich bezieht. Schließlich haben wir es bei unseren Vormündern nicht mit Bösewichtern, sondern mit Menschenfreunden zu tun. Doch war es La Boétie, der als erster erkannt hat, daß die erste Ursache der »freiwilligen Knechtschaft« die Gewohnheit ist, und das gilt unter den Bedingungen der postdemokratischen Politik vielleicht sogar in höherem Maß als in der Vergangenheit; denn sie unterwirft uns der unerträglichen Leichtigkeit einer Aufsicht, die in alle Ritzen unseres Daseins eindringt.
    Dazu hat eine Philosophin des zwanzigstens Jahrhunderts, die hellsichtige Hannah Arendt, anno 1975 bereits das Nötige gesagt. Sie sprach damals in Kopenhagen vom »Druck einer sich abzeichnenden Veränderung aller Staatsformen, die sich zu Bürokratien entwickeln, das heißt, zu einer Herrschaft weder von Gesetzen noch von Menschen, sondern von anonymen Büros oder Computern, deren völlig entpersönlichte Übermacht für die Freiheit und für jenes Minimum an Zivilität, ohne das ein gemeinschaftliches Leben nicht vorstellbar ist, bedrohlicher sein mag als die empörendste Willkür von Tyranneien in der Vergangenheit.«
    Wenig spricht bisher dafür, daß die Europäer dazu neigen, sich gegen ihre politische Enteignung zur Wehr zu setzen. Zwar fehlt es nicht an Äußerungen des Unmuts, an stiller oder offener Sabotage, aber insgesamt führt das berühmte demokratische Defizit bisher nicht zum Aufstand, sondern eher zu Teilnahmslosigkeit und Zynismus, zur Verachtung der politischen Klasse oder zur kollektiven Depression.
    Schlechte Aussichten also, aber, wie der Ingenieur im Untergang der Titanic sagt:
     
    Salzwasser in
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