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Sanftes Monster Bruessel oder die Entmuendigung Europas

Sanftes Monster Bruessel oder die Entmuendigung Europas

Titel: Sanftes Monster Bruessel oder die Entmuendigung Europas
Autoren: Hans Magnus Enzensberger
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immer in solchen Fällen, nicht sie, die für die astronomisch hohen Tribute an die Sieger aufkommen, sondern die Mannschaften. Um noch einmal Benn zu zitieren: »Dann ein neues Revirement, und man geht auf seine Güter.« Dabei zahlen stets diejenigen, die an dem Debakel am wenigsten schuld sind. In welcher Form das geschieht, ist zweitrangig: Steuererhöhungen, Rentenkürzungen, Inflation, Währungsschnitt. Das Rezept ist nicht neu: Sozialisierung der Verluste, Privatisierung der Gewinne. Daß der politischen Enteignung die ökonomische folgt, entbehrt nicht der Logik.

VIII
Der Eintritt in ein postdemokratisches Zeitalter
    In einem bemerkenswerten Essay hat Robert Menasse, der Schriftsteller, von dem bereits die Rede war, eine Ehrenrettung der Brüsseler Institutionen versucht. Er hat sich monatelang Zeit gelassen, um in ihre Eingeweide einzudringen, und ist zu dem Schluß gekommen, daß es sich bei den Kabinetten der Kommissare, den Generaldirektionen, den Arbeitsgruppen und Ausschüssen um »einen aufgeklärten Beamtenapparat« handelt, »den man füglich als josephinische Bürokratie bezeichnen muß, die unbeirrt … Verordnungen und Richtlinien ausarbeitet«.
    Andere Beobachter bevorzugen andere Vergleiche. Statt auf die Zeit des aufgeklärten Absolutismus zu rekurrieren, sprechen sie von jakobinischen Traditionen oder, noch ungehaltener, von einer Nomenklatura nach sowjetischem Muster.
    Auch Menasse nimmt freilich kein Blatt vor den Mund, wenn es um den politischen Preis der Brüsseler Konstruktion geht. Radikaler als seine Verteidigung ließe sich ein Angriff auf die Mechanismen der Union kaum formulieren. Er stellt fest, »daß die gegenwärtige Krise und der Umgang mit ihr an das letzte Tabu der, ihrem Selbstverständnis nach, aufgeklärten Demokratien rührt. Dieses Tabu ist die Demokratie selbst … Kann es sein, daß Demokratie, so wie wir sie nach 1945 mühsam und ungenügend gelernt haben und wie wir sie gewohnt sind, auf supranationaler Ebene gar nicht funktionieren kann – im Gegenteil: daß sie das Problem ist, dessen Lösung wir mit wachsender Hilflosigkeit von ihr erwarten? … Es ist ein Faktum, daß es zwar allesamt demokratische Staaten sind, die sich in der EU zusammengeschlossenhaben, Faktum ist aber auch, daß sie dabei demokratische Standards, die in den Nationalstaaten erreicht waren, auf supranationaler Ebene verloren, wenn nicht sogar bewußt preisgegeben haben … Der Lissabon-Vertrag hat zwar einige Verbesserungen gegenüber dem Vertrag von Maastricht gebracht, aber die demokratiepolitischen Rückschritte und Defizite sind nicht nur nicht ganz ausgeräumt, sondern einige geradezu in Stein gemeißelt.
    Ein Beispiel: Man kann von entfalteter Demokratie nur sprechen, wenn Gewaltenteilung existiert … In der EU allerdings ist die Gewaltenteilung aufgehoben. Das Parlament ist zwar gewählt, hat aber kein Gesetzesinitiativrecht (oder jetzt, nach Lissabon, nur durch die Hintertür): Das Initiativrecht hat die Kommission … Die Kommission aber ist die Institution, in der die demokratische Legitimation am Ende ausgehebelt wird: hier arbeitet ein nicht gewählter und nicht abwählbarer Apparat, der die Gewaltentrennung aufgehoben hat … Demokratiepolitisch produziert diese Trias von Parlament, Rat und Kommission also ein schwarzes Loch, in dem das, was wir unter Demokratie verstanden, verschwindet.«
    Soweit Robert Menasses Analyse, der wenig hinzuzufügen ist. Die Schlüsse, die er daraus zieht, reichen weit über die Einwände hinaus, die im allgemeinen Krisenpalaver laut werden. »Das ist der Punkt«, sagt er, »an dem man vielleicht bereit sein müßte zuzugeben, daß es heute ein Fortschritt, ein Befreiungsschritt ist, wenn über die Rahmenbedingungen unseres Lebens eben nicht mehr wesentlich durch Volkswahlen abgestimmt wird … Und erst hier, aus der Nähe die Konstruktion und Arbeitsweisen der EU beobachtend, kam mir der Gedanke, daß die klassische Demokratie, ein Modell, das im 19. Jahrhundert zur vernünftigen Organisation von Nationalstaaten entwickelt wurde, nicht einfach auf eine supranationale Union umgelegt werden kann, ja, sie behindert.«
    Damit ist das Kernproblem der Union beim Namen genannt. Offiziell trägt es eine euphemistische Bezeichnung. Das sogenannte»demokratische Defizit« gilt als eine chronische und offenbar schwer zu behandelnde Mangelkrankheit, die zugleich beklagt und verharmlost wird. Dabei kann von einem medizinischen Rätsel keine Rede sein; es handelt
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