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Sandor Marai

Sandor Marai

Titel: Sandor Marai
Autoren: Die Fremde
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es
auf deutsch, mit spontaner Nächstenliebe. Doch als er keine Antwort bekommt,
nicht einmal ein Kopfnicken, zuckt er beleidigt mit den Schultern und geht
davon.
    Die
allgemeine Aufmerksamkeit wendet sich nun dem
Straßenhändler zu, der sich plötzlich vor die ältere englische Dame kniet und
in dieser Haltung zu ihr auflächelt. Wie Genien auf Denkmälern zu den Großen
der Nation. Mit einer Hand breitet er gestreifte Webarbeiten vor der erwählten
Dame aus, als würde er sie bitten, darauf zu treten und sein Leben und Blut
anzunehmen, das er ihr nebenbei auch noch geweiht hat. Die unbeholfene
Pantomime verzaubert alle. Minuten vergehen so.
    Und dann
kommen all diese unleugbar ein wenig balkanischen Akzente, aus deren klobiger,
konsonantenreicher
Masse das deutsche Wort hervorschnalzt wie das Kommando eines Eroberers, für
einen Moment zum Siedepunkt: das Seufzen, Stöhnen und nervöse Lachen brodelt
als ein einziges ineinanderfließendes unbestimmtes Brausen. Wer jetzt über die
Terrasse des Argentina blickt, sieht eine merkwürdige Pantomime, wie in
einer dramatischen Szene einer süßlichen, dick auftragenden Oper, im
spannendsten Moment, wenn der in südländischer Maske wehklagende,
dichtgedrängt stehende wirre Chor verstummt und alle warten, daß in seinem
gekränkten Kummer endlich der Tenor hervortritt.
    Aber es
tritt niemand hervor. Nur der Gong ertönt im Restaurant, und der einstige
Steward erscheint in
der Tür des Speisesaals, die er ein wenig theatralisch weit öffnet, wie ein
Statist, der auch in seiner kleinen Rolle Schicksal spielt und nebenbei ruft:
    »Monsieur
Askenasi!«
    Etwas
leiser setzt er in seinem unvermeidlichen Französisch hinzu:
    »On
vous demande à l’appareil!«
    Es löste
keine besondere Überraschung aus, daß sich daraufhin der Herr mit der Brille
aus seinem Liegestuhl erhob – der bleiche Herr, der zuvor das eiskalte Wasser
verlangt hatte. Man scheint ihn zum ersten Mal zu bemerken, Blicke folgen ihm,
wenn auch nur beiläufig interessierte, bis zur Tür.
    »Es-ist-fast-nicht-aus-zu-halten«,
sagt plötzlich der Porzellanfabrikant und steht auf. Man blickt zum Himmel,
erbost, als wäre man allen Vereinbarungen zum Trotz betrogen worden. Der Porzellanfabrikant
trinkt den Rest seines Kaffees und geht ins Restaurant. Von dort dringt noch
seine Stimme herüber, als er in klagend-weinerlichem Tonfall wiederholt:
»Nicht-aus-zu-halten.«
    Im oberen
Stock schließt ein Stubenmädchen der Reihe nach die grünen Fensterläden.
    Die
Gesellschaft zerstreut sich in die Zimmer. Zeit zur zweiten Tafel.

Askenasi?
Etwa aus Ostrau?
    »Warten
Sie mal, Askenasi!«
sagte der Porzellanfabrikant leise, vertraulich und legte dem Portier die Hand
auf den Arm. »Askenasi, Askenasi. Mir scheint, er ist aus Ostrau.« Doch noch
bevor der Portier antworten konnte, öffnete sich die Tür der Telephonzelle, und
der binokeltragende fremde Herr trat heraus, hustete atemlos, trocknete sich die
Stirn und wandte sich eilig an den Portier. Seine eckige Stirn leuchtete
auffällig weiß, das zusammengeknüllte und durchnäßte Taschentuch hatte er
während der sechs Minuten des Gesprächs wahrscheinlich in der Hand gehalten.
Er ging auf die Portiersloge zu, blieb auf halbem Wege stehen und steckte vier
Finger seiner linken Hand zwischen Kragen und Hals, um sie anschließend
zerstreut an der Hosennaht zu reiben.
    »Ich muß
heute abend abreisen«, sagte er ein wenig atemlos und heiser. »Wenn ich einen
Schlafwagen bekomme«, setzte er rasch hinzu. Der Porzellanfabrikant trat
neben die Drehtür und begann mit dem harmlos-listigen Gesichtsausdruck eines
beinahe ertappten Privatdetektivs den Aushang des ortsansässigen
Schiffahrtsunternehmens zu studieren. »Eine unangenehme Nachricht, gnädiger
Herr?« fragte der Portier und griff nach dem Fahrplan.
Und als er keine Antwort bekam, kühler: »Der Schlafwagen wird erst in Spalato
angehängt. Um sieben Uhr morgen geht ein Schiff. Der Herr reist Richtung Zagreb
oder über Venedig?« Sie sprachen deutsch; die Ellbogen aufgestützt, beugten
sie sich über die Theke der Portiersloge und steckten die Köpfe vertraulich
zusammen. Der Fremde schneuzte sich lange und fast gerührt in sein ohnehin
schon durchweichtes Taschentuch.
    In diesem
Moment schritt die aschblonde Dame durch die Empfangshalle, die Frau mit der
sehr weißen Haut, die die klimatischen Torturen mit sichtlicher Überlegenheit
ertrug. Auch sie blieb vor der Drehtür stehen und starrte mit der Ratlosigkeit
des
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