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Sandor Marai

Sandor Marai

Titel: Sandor Marai
Autoren: Die Fremde
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zusammengesetztes
Insekt die Furchen eines steilen Asts hinaufkrabbelt.
    Der Fremde
blickte ihr bis zum Treppenabsatz des ersten Stocks nach. Um die verschwindende
Gestalt länger sehen zu können, näherte sich der Porzellanfabrikant, schamlos
und gewöhnlich, wie es seiner Natur entsprach, mit einigen raschen Schritten
der Treppe. Nichts für dich, dachte Askenasi mit plötzlicher Schadenfreude. Er
lächelte, zuckte die Achseln. Der Porzellanfabrikant, der das Lächeln sofort
mißverstand, öffnete seine wulstigen Lippen schon zu irgendeiner ordinären
Männervertraulichkeit, doch der Fremde entging der
Bemerkung, indem er der Frau die Treppe hinauffolgte.
    Eigentlich
gefällt sie mir gar nicht, dachte er; noch Jahre später empfand er, wenn ihm
diese Feststellung einfiel, eine quälende Ratlosigkeit ob der Frage, warum sein
Eindruck in dem Moment dieses »eigentlich« enthalten hatte.
    Auf dem
Treppenabsatz blickte er sich um: Der Portier stand, die Mütze in der Hand,
noch immer in seiner Loge und lächelte. Der Porzellanfabrikant hatte vergessen,
den Mund zu schließen, und blinzelte hilflos und verlegen, fast empört, als
hätte er unerwartet eine Weisung erhalten, deren Wortlaut er nicht vollständig
verstand. Die Botschaft hatte keinen eindeutigen Adressaten, das war das
irritierende daran. Mit eingeweihtem, dennoch unsicherem Blick sahen sie
einander an; der Portier wandte sich langsam ab, wie jemand, der für die Folgen
keine persönliche Verantwortung übernehmen kann.
    Als
Askenasi den Treppenabsatz des ersten Stocks erreicht hatte, ergriff ihn ein
Taumel (und darauf, wenngleich mit wenig Erfolg, berief er sich später mit
Nachdruck, als handelte es sich um einen sehr bedeutsamen, vielleicht sogar
entscheidenden Umstand, der aber anderen Menschen nicht unmittelbar
begreiflich zu machen wäre); der Taumel, daß er schon einmal über diese Treppe
gegangen sei, genau in dieser Kleidung, in diesen Schuhen, unter identischen
Umständen, auch damals aus der Telephonzelle kommend, wo er dieselben fernen
Worte gehört hatte, und auch damals war er dieser Frau
gefolgt, die »zwei« nach berlinerischer Telephongepflogenheit »zwo« aussprach;
der Taumel, eine Fata Morgana zu erleben, die jedoch Wirklichkeit war, ein
Spiegelbild, in dem man sich auch körperlich bewegen konnte, und der Moment als
Ganzes war in der Zeit irgendwie nicht an seinem richtigen Platz fixiert.
    Aber das
ist ja eine wohlbekannte Erscheinung, dachte er beiläufig. Bergson. Er
beschleunigte seine Schritte, zugleich nahm er das Binokel ab und rieb sich
mit feuchten Handflächen die Augen. Jetzt, ohne Binokel, sah er sie
verschwommen, von weitem, etwa zehn Meter mochten zwischen ihnen liegen. Ohne
sich umzuwenden, ging sie auf den hofseitigen Flügel des zweiten Stocks zu. Als
sie um die Ecke bog, schien sie langsamer zu werden. Später glaubte er sich zu
entsinnen, er habe sie während ihres kurzen Gesprächs nach dem Grund gefragt
– und er erinnerte sich, daß er bei dieser Frage entsetzlich traurig geworden
war. Er hielt es für ausgeschlossen, daß er sich irrte. Die Details einer
wichtigen Begebenheit sieht man nicht nur – einen Moment nur war er
geneigt, ihre lockende, verführerische Langsamkeit als kurzsichtiges,
halbblindes Mißverständnis zu deuten, doch sämtliche Sinne konnten in diesem
kritischen Augenblick nicht trügen: er konnte auch hören und ertasten, daß
sich das Tempo ihrer Schritte verringerte.
    Es gab
einen Moment, ebenjenen, als Askenasi das Binokel von der Nase nahm und die
Frau mit diesem raschelnden Libellengang zur Treppe einbog, die in
den zweiten Stock des hofseitigen Trakts führte – einen Moment, wo ihr Gang
spürbar langsamer, zögernder war, als man erwarten würde, wenn jemand einem
bestimmten Ort zustrebt. Die Schritte der Frau waren noch schleppender, als es
bei gemütlichem Schlendern der Fall ist, und schließlich spricht man nicht nur
mit Worten.
    Im
nachhinein wollte es ihm scheinen, sie sei, bevor sie endgültig in den
hofseitigen dunklen Korridor einbog, für einen Moment sogar stehengeblieben.
Doch das könnte auch Einbildung gewesen sein. Sicher, wenn sie stehengeblieben
wäre, dachte Askenasi später. Er jedenfalls war stehengeblieben, putzte sein
Binokel, und erst als sie bereits aus seinem Blickfeld verschwunden war,
begann er, nun klar sehend, nach ihr auszuschauen.
    Dieser
Taumel, dieses Fata-Morgana-Phänomen dauerte wundersamerweise auch hier im
Obergeschoß noch an; die wenigen Stufen
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