Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Sandor Marai

Sandor Marai

Titel: Sandor Marai
Autoren: Die Fremde
Vom Netzwerk:
halbnackten, nicht mehr
jungen, halbkahlen, kurzsichtigen achtundvierzigjährigen Mannes. Der Körper
weiß derartiges wahrscheinlich im voraus. Er arbeitet mit anderen Instrumenten
und unbekannten Informationen. In ihm wirkt noch der Rhythmus eines Instinkts,
mit dem Tiere den Sturm schon Stunden zuvor spüren. Man holt sich nicht blindlings
einen Sonnenbrand, die Ölflasche, die er am Morgen gekauft hatte, lag am
Vormittag in Griffweite, er hatte sie nicht angerührt.
    Er bewegte
sich und zischte durch die Zähne. Großartig, dachte er, daß der Körper so für
einen sorgt.
Guter, kluger Körper. Er seufzte tief und kindlich. Vorsichtig legte er sich
auf das Bett, stöhnte leise, nahm das Binokel ab, behielt es in der Hand,
während er sich ausstreckte, den anderen Arm unter den Kopf schob und die Augen
schloß.
    Minuten
später bemerkte er enttäuscht, beunruhigt und überrascht, daß er nichts
spürte. Wie Zahnschmerz ist
das, dachte er, wenn man ihm droht, hört er auf. Aber er wollte ihm gar nicht
ausweichen: Daran führt kein Weg vorbei, wenn wir nun mal so weit sind, nichts
soll übrigbleiben, ich muß es mit allen Einzelheiten und Folgen durchstehen,
sonst wird es niemals heilen. Soll es nur weh tun.
    Reglos lag
er da und wartete auf den bekannten Schmerz. Er erwartete, daß der Schmerz, der
bisher nur einen Vorgeschmack seiner Kraft gegeben hatte, jetzt, nach dem
gerade Geschehenen, Auge in Auge mit der Gewißheit, wie ein Taifun über ihn
hereinbrechen und ihn durch die Luft wirbeln, ihm gar einen Arm oder ein Bein
ausreißen würde. Es wäre nicht das erste Mal. Doch er spürte nichts.
    Er gähnte.
Ganz leise sprach er den bekannten Namen aus, einmal, und als diese Kühnheit,
diese Provokation keine Folgen zeitigte, noch zweimal nacheinander, dreist,
halblaut. Jetzt muß ich sehr gut aufpassen, dachte er. Möglich, daß ich daran
sterbe, aber von einer Stunde auf die andere geschieht so etwas nicht; ich muß
aufpassen wie jemand, der sich mit Pestbazillen infiziert hat, jedes Symptom
muß ich notieren, vielleicht kann ich später anderen damit nützen.
    Er fühlte
aufrichtige Freude, tiefen und selbstlosen guten Willen. Sämtliche Symptome
wollte er aufzeichnen, bis zum allerletzten Moment, wenn der Schmerz die
Kontrolle des Verstandes überrollt. Er wußte, daß das sehr schwer sein würde:
Wenn die Krankheit ausbricht, lähmt sie in erster Linie die kontrollierenden
Organe. Auf alle Fälle mußte er damit rechnen, daß er infiziert worden war, und
er war entschlossen, sich der Krankheit vollkommen zu überlassen und bis
zuletzt auf Beobachtungsposten zu bleiben.
    Es gibt
auch Heilmittel, dachte er, doch was hat man davon? Zum Beispiel Methoden.
Vielleicht nur eine Anekdote, aber Kant hat angeblich methodisch vergessen; er
mußte seinen Diener, der Lampe hieß und den er sehr mochte, eines Tages hinauswerfen,
weil er ihn beim Stehlen ertappt hatte. Er warf ihn hinaus, doch es schmerzte
ihn, weil er ihn mochte. Der Schmerz des Verlusts wird durch die
Zweitrangigkeit des geliebten Objekts nicht gemildert, dachte er. Anna hat
unbedingt höheren Rang als Eliz, trotzdem liebe ich sie nicht.
    Kant
schrieb mit Kreide auf eine Tafel, in Großbuchstaben, daß er Lampe vergessen
müsse. Diese Tafel betrachtete er täglich eine Stunde lang. Lampe muß
vergessen werden. Reisen nützt nicht viel. Reisen, Forschung,
Arbeitsfieber, Klimaveränderung, Zerstreuung und Gesellschaft nützen nicht
viel. Methoden sind unzuverlässig. Wahrscheinlich gibt es gar keine
universelle Heilmethode. Auch Sterben ist eine individuelle Angelegenheit,
man stirbt nach eigenem Gutdünken und pfeift auf bewährte Methoden.
    Er hob die
Hand, hielt sie sich kurzsichtig vor die Nase und betrachtete sie. Es hätte ihn
nicht überrascht, hätte er seltsame Flecken darauf entdeckt, violette
Entzündungen, Stigmata. Irgendwie wird es sich bemerkbar machen. Bei einer
Blinddarmentzündung verändert sich das Blutbild. Vielleicht sollte ich meine
Temperatur messen.
    Er lag
unbequem, und es ärgerte ihn jetzt, daß er eine solche Kleinigkeit überhaupt
bemerkte. Ungeduldig wartete er auf Anzeichen, jetzt müßte die Infektion
bereits Folgen zeigen, innerhalb von ein, zwei Minuten wird mit Sicherheit
irgend etwas zu merken sein, vielleicht fängt es mit einem einfachen
Kopfschmerz an, oder wie Blutvergiftung und Wundrose mit unscheinbaren
Quaddeln, die sonst so harmlosen Streptokokken verursachen an einem Punkt des
Körpers eine Entzündung.
Vom Netzwerk:

Weitere Kostenlose Bücher