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Sandor Marai

Sandor Marai

Titel: Sandor Marai
Autoren: Die Fremde
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Elementen frequentiert würden; das Haus habe streng
familiären Charakter, noch nie sei durch das Personal irgend etwas weggekommen,
im übrigen sei die deutsche Ehrlichkeit weltberühmt, und für das Personal lege
er seine Hand ins Feuer; falls der Herr etwas im Hotel vergessen habe, möge er
den betreffenden Gegenstand auf das genaueste beschreiben und seine nächste
Adresse angeben. Er, der Direktor, werde die Suche und die
Nachforschungen persönlich leiten, und wenn der Gegenstand zum Vorschein komme,
werde er auf Kosten des Hotels nachgeschickt.
    Sie standen
in der Tür, der Direktor forderte nun schon fast eine Antwort. Gewiß, gewiß,
sagte Askenasi leise und befangen; wenn dieses Ding, der Gegenstand nicht
auftauche, werde er telegraphieren und darum ersuchen, daß er ihm unbedingt
nachgeschickt werde; er bitte um Entschuldigung, in letzter Zeit sei er ein
wenig zerstreut, es sei schon oft vorgekommen, daß er sein Nachthemd im
Hotelzimmer vergessen habe; nicht der Rede wert, auch jetzt habe er, als er am
Bahnhof sein Gepäck kontrollierte, nur zufällig bemerkt, daß seine
Reiseutensilien unvollständig seien, daß er etwas vergessen habe.
    »Ach, die
Herren Professoren«, sagte der Direktor jovial spöttelnd. Askenasi quittierte
den plumpen Scherz mit flüchtigem Grinsen und Kopfnicken und eilte ohne weitere
Erklärungen zurück zum Bahnhof, wo der Dienstmann das Gepäck bereits im Abteil
verstaut hatte. Er sprang auf den abfahrenden Zug und begann fieberhaft, seine
in aller Eile gepackten Sachen zu durchstöbern. Dem Befremden seiner
Mitreisenden, eines pfeiferauchenden bayrischen Gutsherrn und eines wahrscheinlich
aus Holland stammenden älteren Herrn mit Diplomatenpaß, der das nervöse und
seltsame Verhalten Askenasis zunächst mit Anteilnahme, später entgeistert und
mit hochgezogenen Brauen verfolgte, schenkte er keine Beachtung.
    Er vermißte
dieses Etwas, das er unterwegs, im Hotel, vielleicht auch noch früher verloren
hatte, so qualvoll, daß er keinen Moment an dessen Wichtigkeit und Wert
zweifelte. Ja, die Herren Professoren, dachte er mit höhnischem Bedauern, während
er mit nervösen Händen blindlings zwischen ausgebreiteten Kleidern, Wäsche und
Büchern herumwühlte. Schließlich gab er seinen zwecklosen und hoffnungslosen
Versuch auf: hier im Eisenbahnabteil konnte er nicht jedes Taschentuch einzeln
auseinanderfalten.
    Während des
eifrigen Suchens hielt er plötzlich inne, weil er sein Gedächtnis vergebens
anstrengte. Er konnte sich die Beschaffenheit, den Umfang oder die
Eigenschaften jenes Gegenstands nicht vergegenwärtigen, jenes Objekts, dessen
Fehlen ihn so sehr beunruhigte und das er mit so existentieller Erregung suchte
und entbehrte.
    Er setzte
sich auf seinen Platz am Fenster, eine Hand ließ er auf den mit Müh und Not
wieder geschlossenen Gepäckstücken ruhen, gleichsam bereit, sich jederzeit
wieder an die Suche zu machen, falls ihm nähere Angaben zu dem bedeutsamen
Gegenstand einfielen. Mit gerunzelter Stirn, ohne seine Mitreisenden eines
Blickes zu würdigen, starrte er streng und abweisend zum Fenster hinaus.
(Später erinnerte er sich, daß er unterwegs auch seine Jackettaschen mehrmals
umkehrte und die Fächer seiner Brieftasche untersuchte, doch alles an seinem
Platz fand.)
    Die Nacht
im Zug verbrachte er fast reglos; er saß am
Fenster, zog den am Haken hängenden Überzieher vor das Gesicht, und in diesem
geschützten und sicheren Zustand, im Halbschlaf dahindämmernd, hin und wieder
zu plötzlicher Wachheit aufschreckend, reiste er mit leerem Magen und trockener
Kehle.
    Nach
Mitternacht wurde er ein wenig ruhiger. Er konnte nichts tun. Erst im Hotelzimmer
würde er sein Gepäck vollständig untersuchen, jede Tasche umkehren und seine
Aufzeichnungen durchsehen können. Zweifellos würde es ihm dann einfallen, und
vielleicht fand er das Vermißte sogar. Er durchdachte das Phänomen kritisch und
mit großer Aufmerksamkeit, beleuchtete es stundenlang von allen Seiten,
schließlich, als die Aufregung abklang und er von der Anstrengung der Reise
ermüdet war, fast schon höhnisch.
    Sein
unsinniger Zustand ergab sich ganz einfach aus dem Gefühl, etwas zu vermissen,
das ihn am Münchner Bahnhof inmitten seines Gepäcks ergriffen hatte. Die
Furcht – fast ein Grauen –, etwas vergessen zu haben, und sein unwürdiges Auftreten
im Hotel konnten sich keineswegs auf ein vergessenes Nachthemd beziehen. Er
machte aus dem Gedächtnis heraus Inventur, zählte auf, was er mit
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