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San Miguel: Roman (German Edition)

San Miguel: Roman (German Edition)

Titel: San Miguel: Roman (German Edition)
Autoren: T.C. Boyle
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sie zu holen, und auch die anderen waren fort: Bob Brooks und die Scherer gingen ihrer Arbeit nach, und die Navyjungs hatten ihr Zelt neben dem Bootsschuppen am Strand aufgeschlagen. Nur Jimmie war geblieben, um ein Auge auf das Haus zu haben und ihr Gesellschaft zu leisten. Das war nett von ihm, aber sie brauchte keine Gesellschaft. Was sie brauchte, waren ihr Mann und ihre Töchter und dass alles wieder so wurde, wie es gewesen war.
    Das Feuer knackte und brachte sie in die Gegenwart zurück. Sie hielt etwas in der Hand: Es war eine Schallplatte, das Requiem , aber sie war klug genug, sie nicht aufzulegen. Nein, es gab nur einen Ort dafür: das Feuer. Zornig, wütend warf sie die Platte in die Flammen und sah zu, wie der Umschlag schwarz wurde und der Schellack schmolz und verbrannte. Von ihren Büchern wollte sie sich nicht trennen – sie hatte sie quer durch das ganze Land und über den Santa-Barbara-Kanal auf diese Insel gebracht und würde sie auch wieder zurückbringen –, aber wohin sie auch sah, waren Briefe, Rechnungen und Papiere, Zeitschriften, Rezepte und Zeitungsausschnitte, selbstgemalte Bilder und Zeichnungen und Fotos. All das warf sie, ohne einen zweiten Blick darauf zu werfen, ins Feuer. Sie spürte die Hitze der hochschlagenden Flammen und wandte sich der Truhe mit den Erinnerungsstücken zu. Sie war aus unbehandeltem Zedernholz und roch nach Wald und immerwährendem Schatten. Sie versuchte, ein Ende der Truhe anzuheben, doch sie war zu schwer. Erinnerungsstücke. Was waren schon Erinnerungsstücke?
    Sie klappte den Deckel auf, und da lagen die Zeitungen und Zeitschriften mit ihren Namen: Life und Look und The Saturday Evening Post , die Schweizer Familie Lester, die Pioniere, der verwundete Veteran, die einsame Insel. Sie wusste noch nicht, dass die Japaner besiegt werden würden oder dass Bob Brooks als Ersatz für sie ein älteres norwegisches Ehepaar – die Eklunds – finden würde oder dass die Navy den Pachtvertrag in sechs Jahren aufheben würde und sämtliche Widder, Mutterschafe und Lämmer auf die Vaquero geladen und geschlachtet werden würden. Sie wusste nicht, dass die Navy die Insel als Testgelände für Bombenabwürfe benutzen und dass das Haus, in dem sie stand, in siebenundzwanzig Jahren aus unbekannter Ursache in Flammen aufgehen und nur der gemauerte Kamin noch in der windverwehten Asche stehen würde. Und sie wusste nicht, dass San Miguel und das Meer ringsum schließlich in die Zuständigkeit der Nationalparkbehörde fallen würden, so dass jeder, der hierherkommen und träumen und über die Hügel gehen und die Luft dieser Insel atmen wollte, eine amtliche Genehmigung brauchen würde.
    Sie wusste nur, dass ihr die Insel fremd geworden war, so fremd wie damals, als sie als junge Braut den Hügel hinaufgegangen war und Herbie alle Lampen im Haus angezündet hatte; als sie hinaus auf den Hof getreten war, um ihre neuen Lederkoffer zu holen, war der Schein des Lampenlichts durch die Fenster in eine Nacht gefallen, die so hoch gewesen war wie der Himmel und seine Sterne. Sie wusste, dass das Glück sie verlassen hatte. Und sie wusste, dass es nichts aufzubewahren gab, dass sie nichts festhalten konnte, dass am Ende nichts blieb. Sie beugte sich über die Truhe und hob so viel heraus, wie sie greifen konnte. Das Feuer flammte auf. Das Papier kräuselte sich, die Fotos verschwanden, als hätte es sie nie gegeben. Wäre sie hinausgegangen, dann hätte sie den Rauch sehen können, der aus dem Kamin quoll und in den Himmel stieg, bis der Wind ihn erfasste und hinaustrieb aufs Meer.

Über den Autor/Übersetzer
    T. Coraghessan Boyle
    T. Coraghessan Boyle, 1948 in Peekskill, N.Y., geboren, unterrichtete an der University of Southern California in Los Angeles.
    Bei Hanser erschienen u. a. Willkommen in Wellville (Roman, 1993), América (Roman, 1996), Riven Rock (Roman, 1998), Fleischeslust (Erzählungen, 1999), Ein Freund der Erde (Roman, 2001), Schluß mit cool (Erzählungen, 2002), Drop City (Roman, 2003), Dr. Sex (Roman, 2005), Talk Talk (Roman, 2006), Zähne und Klauen (Erzählungen, 2008), Die Frauen (Roman, 2009), Das wilde Kind (Erzählung, 2010) und Wenn das Schlachten vorbei ist (Roman, 2012).
    Dirk van Gunsteren
    Dirk van Gunsteren, 1953 geboren, übersetzte u. a. Peter Carey, Jonathan Safran Foer, Patricia Highsmith, John Irving, Colum McCann, V. S. Naipaul, Thomas Pynchon, Philip Roth, Oliver Sacks und Richard Stark. 2007 erhielt er den Heinrich Maria Ledig-Rowohlt-Preis.
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